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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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steinernen Türme, in deren Fenstern jetzt Lichter aufblitzten.
    Aus den Reihen der Sithi ritt Yizashi Grauspeer mit eingelegter Lanze vor. Er hob den anderen Arm und schwenkte etwas, das wie ein kleiner silberner Stab aussah. Seine Hand blitzte in einem weiten Bogen auf, und ein melodisches, leicht metallisches Geräusch wurde hörbar. Das silberne Ding öffnete sich wie ein Fächer und entfaltete sich zum glitzernden, halbkreisförmigen Schild.
    »A y’ei g’eisu!« , rief er zu der Burg hinauf, die ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte. »Yas’a pripurna jo-shoi!«
    Die Lichter in den Fenstern von Naglimund flackerten wie Kerzen im Wind. Schatten regten sich in den Tiefen. Eolair spürte einen fast überwältigenden Drang, kehrtzumachen und davonzugaloppieren. Dies war kein Ort für Menschen, und das Entsetzen, das seine Adern vergiftete, hatte mit der ahnungsvollen Furcht vor einer Schlacht nichts gemein. Er sah auf Maegwin. Sie hatte die Augen geschlossen und bewegte stumm die Lippen. Auch Isorn schien allen Mut verloren zu haben, und als Eolair sich im Sattel umdrehte und nach hinten schaute, glotzten ihn seine Hernystiri mit ihren bleichen Gesichtern, den aufgerissenen Mündern und hohlen Augen an wie eine Schar von Leichen.
    Brynioch bewahre uns, dachte der Graf verzweifelt, was tun wir hier? Wenn ich eine falsche Bewegung mache, reißen sie alle aus.
    Er zog das Schwert aus der Scheide und zeigte es seinen Männern, hielt es dann kurze Zeit hoch über dem Kopf und ließ es endlich wieder an seine Seite sinken. Es war nur eine kleine, tapfere Geste, aber immerhin etwas.
    Jetzt ritten Jiriki und seine Mutter Likimeya nach vorn und blieben rechts und links von Yizashi stehen. Nach kurzer Unterredung im Flüsterton trieb Likimeya ihr Pferd noch einige Schritte weiter auf die Mauer zu und fing dann zu Eolairs Überraschung zu singen an.
    Ihre Stimme, zuerst nur ein dünner Ton im rauhen Gegröl des Windes, nahm allmählich an Kraft zu. Die unbegreifliche Sithisprache strömte aus ihrem Mund, gedehnt und schnalzend und doch zugleich so geschmeidig wie warmes Öl, das aus einem Krug fließt. Das Lied stieg und fiel, pulsierte und schwoll wieder an, wurde jedes Mal mächtiger. Obwohl Eolair die Worte nicht verstand, lag ein deutlicher Tadel im Heben und Senken der Melodie, etwas Herausforderndes in ihrem Rhythmus. Likimeyas Stimme schmetterte wie das Messinghorn eines Herolds, und wie im Schall des Horns lag unter den Tönen ein Echo von kaltem Metall.
    »Was geht dort vor?«, wisperte Isorn. Eolair winkte ihm zu schweigen. Der Dunst, der die Wälle von Naglimund umschwebte, schien dichter zu werden, als ende ein Traum und ein anderer begänne.
    Etwas in Likimeyas Stimme änderte sich. Eolair brauchte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, dass nicht die Herrin der Sithi ihr Lied anders sang, sondern dass eine neue Stimme eingefallen war. Der Ton war so kraftvoll wie derjenige Likimeyas, aber während in ihrer Stimme Metall lag, bestand die neue Stimme aus Stein und Eis. Nach einer kleinen Weile begann die zweite Stimme die ursprüngliche Melodie zu umsingen und ein seltsames Muster, wie ein Netz aus Glasfiligran, um Likimeyas Glockentöne zu weben. Der Klang verursachte dem Grafen von Nad Mullach Gänsehaut, und ihm sträubten sich alle Haare, obwohl seine Haut von mehreren Schichten Kleidung bedeckt war.
    Endlich blickte er auf. Sein Herz fing an, noch schneller zu schlagen.
    Im unbestimmten Nebel wurde ein schmaler schwarzer Schatten auf der Krone der Burgmauer sichtbar, so schnell und plötzlich, als hätte eine unsichtbare Hand ihn dort abgesetzt. Er war so groß wie ein Mensch, schätzte Eolair, aber der trügerische Dunst verzerrte seine Gestalt, sodass er einmal größer und dann gleich wieder kleiner wirkte. In ein schwarzes Gewand gehüllt, das Gesicht unter einer großen Kapuze verborgen, blickte er auf sie herab. Aber Eolair brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass die hohe Stimme, die so hart klang wie Stein, von ihm gekommen war. Lange stand er nur da, hoch oben auf der Mauer im brodelnden Nebel, und umspielte mit seinen Tönen Likimeyas Lied. Schließlich verstummten beide wie auf Verabredung im selben Augenblick.
    Likimeya war es, die das darauf folgende Schweigen brach. Sie rief etwas in der Sithisprache. Die schwarze Erscheinung antwortete mit Worten, die wie spitze Feuersteinsplitter klirrten. Und doch konnte Eolair erkennen, dass die Worte der beiden untereinander große

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