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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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erschien kurz an der Rezeption und wurde von dem strahlenden Empfangschef und seinen engsten Mitarbeitern begrüßt. Sie stellte Gabriel als Monsieur Michel Dumont, ihren Freund und persönlichen Assistenten, vor. Um dieses Image zu festigen, achtete Gabriel darauf, ihre beiden Geigenkästen in die Hotelhalle zu tragen. In französisch gefärbtem Englisch wiederholte er Miss Rolfes Wunsch nach völliger Geheimhaltung ihrer Anwesenheit. Signor Brunetti, der weltmännische Chefportier, versicherte ihm, Miss Rolfes Aufenthalt im Baglioni werde das bestgehütete Geheimnis Venedigs sein. Gabriel dankte ihm herzlich, dann trug er Anna und sich ins Gästebuch ein.
    »Miss Rolfe hat die Giorgione-Suite im vierten Stock. Das ist eine unserer besten Suiten. Ihr Zimmer liegt unmittelbar daneben. Ich denke, das ist Ihnen sicher recht?«
    »Ja, vielen Dank.«
    »Gestatten Sie mir, Miss Rolfe und Sie persönlich hinaufzubegleiten.«
    »Danke, das ist nicht nötig.«
    »Brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Gepäck, Monsieur Dumont?«
    »Nein, ich komme allein zurecht, danke.«
    »Wie Sie wünschen«, sagte der Chefportier enttäuscht und händigte ihm die Schlüssel aus.
    In einem stillen Winkel des Gäßchengewirrs im Stadtbezirk San Marco lag das kleine, aber feine Juweliergeschäft Rossetti & Rossetti, das auf antiken Schmuck und kostbare Einzelstücke spezialisiert war. Wie die meisten venezianischen Geschäftsinhaber schloß Signor Rossetti seinen Laden mittags um 13 Uhr und öffnete ihn erst um 16 Uhr wieder fürs Abendgeschäft. Der Engländer, dem diese Tatsache bekannt war, drückte um 12 Uhr 57 auf den Klingelknopf und wartete darauf, daß der Juwelier den elektrischen Türöffner betätigte.
    Das Juweliergeschäft war winzig, nicht größer als die Küche der korsischen Villa des Engländers. Trat man über die Schwelle, stand man sofort vor einem hufeisenförmigen Ladentisch, unter dessen Glasplatte kostbarer Schmuck ausgestellt war. Als die Tür sich mit hörbar einrastendem Sperriegel hinter dem Engländer schloß, hatte er das Gefühl, in einem kristallenen Gefängnis eingesperrt zu sein. Er knöpfte seinen Trenchcoat auf und stellte seinen Aktenkoffer auf den Parkettboden.
    Signor Aldo Rossetti, der einen eleganten Zweireiher und eine dezente Bankierskrawatte trug, stand bewegungslos wie eine Statue hinter dem Ladentisch. Eine goldgeränderte Lesebrille saß auf der Spitze seiner königlichen Nase. Hinter ihm ragte ein wandhoher Schrank aus dunklem Mahagoni mit zahllosen flachen Schubladen und kleinen Messingknöpfen auf. Aus Rossettis kompromißloser Haltung hätte man schließen können, dieser Schrank enthalte Geheimdokumente, die er unter Einsatz seines Lebens zu verteidigen geschworen habe. Die tiefe Stille in dem kleinen Raum wurde nur durch das Ticken einer antiken Uhr unterbrochen. Rossetti schüttelte dem Engländer traurig die Hand, als sei dieser gekommen, um unverzeihliche Sünden zu bekennen.

    »Ich wollte eben zum Mittagessen gehen«, sagte Rossetti, und wie um seine Aussage zu bestätigen, schlug die antike Wanduhr hinter ihm ein Uhr.
    »Ich halte Sie nicht lange auf. Ich bin hier, um den Siegelring für Signor Bull abzuholen.«
    »Den Siegelring?«
    »Ganz recht.«
    »Für Signor Bull?«
    »Soviel ich weiß, hat er Sie benachrichtigt, daß ich kommen werde.«
    Rossetti legte den Kopf zurück und musterte den Engländer durch seine Lesebrille wie einen Gegenstand von zweifelhaftem Wert und ungeklärter Provenienz. Schließlich nickte er zufrieden und kam hinter dem Ladentisch hervor, um das an der Tür hängende Schild umzudrehen, so daß es nicht mehr geöffnet, sondern geschlossen anzeigte. Dann bat er den Engländer, ihm über die Wendeltreppe in einer Ecke des Ladens nach oben zu folgen.
    Im ersten Stock über dem Laden lag ein kleines Büro. Rossetti setzte sich hinter den Schreibtisch und lud den Engländer mit einer Handbewegung ein, in dem Besuchersessel am Fenster Platz zu nehmen.
    »Vor kurzem habe ich einen Anruf von einem Pagen des Luna-Hotels Baglioni bekommen«, sagte Rossetti. »Die Geigerin und ihr Freund sind soeben dort abgestiegen. Kennen Sie das Baglioni?«
    Der Engländer schüttelte den Kopf.
    Wie viele Venezianer hatte Rossetti stets einen Stadtplan griffbereit - schon allein, um Touristen, die sich im Gassengewirr seiner Stadt hoffnungslos verirrt hatten, weiterhelfen zu können. Sein Exemplar sah aus, als sei es in der Regierungszeit des letzten Dogen gekauft worden: vor Alter

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