Der Engländer
Frau vorn Hügel spielt wieder ihre Sonate.
Vier Stunden später setzte Anna Rolfe ihre Violine ab und legte sie in den Geigenkasten zurück. Im nächsten Augenblick wurde sie von der seltsamen Kombination aus Erschöpfung und Ruhelosigkeit überwältigt, die sie nach jeder Übungsperiode empfand. Sie ging in ihr Schlafzimmer hinüber, ließ sich auf die kühle Steppdecke sinken, streckte die Arme weit von sich und horchte auf ihre eigenen Atemzüge, während der Efeu vor ihrem Fenster im Nachtwind raschelte. Außer Müdigkeit und Rastlosigkeit empfand sie noch etwas anderes, das sie seit vielen Monaten nicht mehr empfunden hatte. Sie vermutete, es müsse Zufriedenheit sein. Die Tartini-Sonate war immer ihr Erkennungsstück gewesen, aber seit ihrem Unfall hatten die raffinierten Griffwechsel und anspruchsvollen Doppelgriffe ihre linke Hand überfordert.
Heute abend hatte sie die Sonate erstmals seit ihrer Genesung wieder fehlerfrei, sogar hervorragend gut gespielt. Aus Erfahrung wußte sie, daß ihre jeweiligen Empfindungen ihr Spiel beeinflußten. Wut, Trauer, Sorge - alle diese Gefühle fanden ihren Ausdruck, wenn ihr Bogen über die Saiten ihrer Violine strich. Sie fragte sich, woher es kam, daß diese durch den Tod ihres Vaters ausgelösten Emotionen sie wieder in den Stand gesetzt hatten, die Tartini-Sonate zu spielen.
Plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, sich zu bewegen. Sie setzte sich auf, zog ihr feuchtes T-Shirt aus und schlüpfte in ein Sweatshirt aus Baumwolle. Dann streifte sie mehrere Minuten lang ziellos durch die Räume ihrer Villa, schaltete hier eine Lampe ein und schloß dort einen Fensterladen. Die glatten Terrakottafliesen unter ihren nackten Füßen waren angenehm kühl. Wie sie dieses Haus mit seinen weißgetünchten Wänden und den geschmackvollen Möbeln im mediterranen Stil liebte!
Es unterschied sich grundlegend von der Villa am Zürichberg, in der sie aufgewachsen war. Die Räume waren groß und licht, nicht klein und düster, die Einrichtung unprätentiös und schlicht.
Das hier war ein ehrliches Haus, ein Haus ohne Geheimnisse. Es war ihr Haus.
In der Küche goß sie sich ein großes Glas Rotwein ein. Er stammte von einem hiesigen Winzer, der auch ihre Trauben für seinen Wein verarbeitete. Nach dem ersten Schluck dauerte es nicht lange, bis der Wein sie in mildere Stimmung versetzte.
Das war das schmutzige kleine Geheimnis der Welt der klassischen Musik: die Trinkerei. Sie hatte schon mit Orchestern geprobt, die aus der Mittagspause so angeheitert zurückgekommen waren, daß es ein Wunder war, daß überhaupt noch jemand spielen konnte. Jetzt warf sie einen Blick in den Kühlschrank. Da sie in Zürich fast nichts gegessen hatte, war sie völlig ausgehungert. Sie briet Champignons, Tomaten und frische Küchenkräuter aus der Umgebung kurz in Olivenöl an, dann fügte sie drei geschlagene Eier und etwas geriebenen Käse hinzu. Nach dem Alptraum in Zürich machte diese einfache Hausarbeit ihr ungewöhnlich viel Spaß. Als die Omelette fertig war, setzte sie sich auf einen der hohen Hocker an der Küchentheke, aß sie und trank dazu ihren Wein aus.
Dabei fiel ihr auf, daß die Anzeige ihres Anrufbeantworters blinkte. Insgesamt waren vier Anrufe gespeichert. Die Klingeln aller Telefone im Haus hatte sie längst abgeschaltet, um nicht gestört zu werden, wenn sie übte. Sie schob noch einen Bissen in den Mund, dann drückte sie auf die Wiedergabetaste.
Der erste Anrufer war der Anwalt ihres Vaters in Zürich, bei dem weitere Papiere lagen, die sie unterschreiben mußte. »Wäre es Ihnen recht, wenn ich sie Ihnen von einem Kurierdienst zustellen lasse?«
Ja, das wäre mir recht, dachte sie. Sie würde ihn morgen früh anrufen.
Der zweite Anrufer war Marco, mit dem sie vor langer Zeit verlobt gewesen war. Auch Marco ein hochbegabter Solist, der jedoch außerhalb Italiens kaum bekannt war. Er hatte es nie verwinden können, daß Anna im Gegensatz zu ihm ein Weltstar war, und sich dadurch an ihr gerächt, daß er mit jeder zweiten Römerin geschlafen hatte. Nach ihrer Trennung von Marco hatte Anna sich geschworen, sich nie wieder in einen Musiker zu verlieben.
»Ich habe von der Sache mit deinem Vater in der Zeitung gelesen, Anna, Liebste. Das tut mir schrecklich leid, mein Herz.
Kann ich irgendwas für dich tun? Ich setze mich sofort ins nächste Flugzeug.«
Nein, das tust du nicht, dachte Anna. Sie würde ihn morgen früh anrufen, wenn sie mit dem Anwalt telefoniert hatte.
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