Der Engländer
Mit etwas Glück würde sich nur sein Anrufbeantworter melden und es ihr ersparen, sich Marcos überschwengliche Beileids-bekundungen anhören zu müssen.
Der dritte Anruf kam von Fiona Richardson. Fiona war der einzige Mensch auf dieser Welt, dem Anna völlig vertraute.
Geriet sie einmal ins Stolpern, war Fiona immer zur Stelle, um ihr wieder aufzuhelfen. »Bist du wieder zu Hause, Anna? Wie war die Beerdigung? Ganz sicher scheußlich. Das sind sie immer. Ich habe über Venedig nachgedacht. Vielleicht sollten wir das Konzert verschieben. Zaccaria hat sicher Verständnis dafür - und deine Fans erst recht. Nach einem solchen Schock kann niemand so schnell wieder auftreten. Du brauchst Zeit, um deinen Kummer zu verarbeiten, Anna - auch wenn du den alten Hundesohn gehaßt hast. Ruf mich mal an.«
Nein, sie würde ihr Konzert in Venedig nicht verschieben. Sie war überrascht, daß Fiona das auch nur vorschlug. Sie hatte ihre Rückkehr aufs Podium schon zweimal verschoben. In den Feuilletons und bei Musikkritikern und Konzertveranstaltern wurden bereits Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Absichten laut. Eine dritte Absage hätte irreparable Schäden verursacht.
Sie würde Fiona morgen früh anrufen und ihr sagen, daß sie in zwei Wochen in Venedig auftreten würde.
Der vierte Anruf: noch einmal Fiona.
»Noch eine Sache, Anna. Vorgestern war ein sehr netter Gentleman von der israelischen Botschaft bei mir im Büro. Er hat gesagt, er würde dich gern sprechen. Er hat gesagt, er besitze Informationen über den Tod deines Vaters. Ich halte ihn für völlig harmlos. Vielleicht solltest du dir anhören, was er zu sagen hat. Er hat mir seine Telefonnummer dagelassen. Hast du Papier und Bleistift?«
Fiona las die Telefonnummer vor.
Carlos hatte im offenen Kamin Olivenholz für ein Feuer vorbereitet. Anna zündete die Späne an, streckte sich auf der Couch aus und sah zu, wie die Flammen allmählich das Holz erfaßten. Im Feuerschein betrachtete sie ihre Hand. Das flackernde Licht ließ die Narben lebendig werden.
Sie hatte stets angenommen, der Tod ihres Vaters werde ihr eine Art inneren Frieden bringen - einen ganzen Lebensabschnitt zum Abschluß bringen. Eine Vollwaise zu sein, erschien Anna erträglicher als der bisherige Zustand kalter Entfremdung.
Vielleicht hätte sie diesen Frieden heute abend gefunden, wenn ihr Vater den gewöhnlichen Tod eines alten Menschen gestorben wäre. Aber statt dessen war er in seinem eigenen Haus erschossen worden.
Sie schloß die Augen und sah wieder die Beisetzung ihres Vaters. Der Trauergottesdienst hatte im alten Frauenmünster am Ufer der Limmat stattgefunden. Die Trauergäste hatten sie an die Teilnehmer der Hauptversammlung irgendeines Schweizer Konzerns erinnert. Die gesamte Züricher Finanzwelt schien gekommen zu sein: Spitzenmanager und junge Aufsteiger aus Großbanken und Handelshäusern ebenso wie die letzten noch lebenden Altersgenossen ihres Vaters - die alte Garde der Züricher Finanzoligarchie. Manche von ihnen hatte sie schon vor fünfundzwanzig Jahren beim Trauergottesdienst für ihre Mutter gesehen.
Während Anna sich die Nachrufe anhörte, war ihr klar geworden, daß sie ihren Vater dafür haßte, ermordet worden zu sein. Ihr erschien es, als habe er sich zu einer abschließenden Tat verschworen, um ihr das Leben noch mehr zu erschweren.
Die Presse hatte wieder die alten Geschichten über Tragödien in der Familie Rolfe ausgegraben: den Selbstmord ihrer Mutter, den Tod ihres Bruders bei der Tour de Suisse, den Unfall, bei dem ihre Hand verletzt worden war. »Eine Familie, auf der ein Fluch lastet«, hatte die Neue Zürcher Zeitung getitelt.
Anna Rolfe glaubte nicht an diesen vermeintlichen Fluch.
Jedes Unglück hatte eine bestimmte Ursache. Sie hatte sich ihre Hand verletzt, weil sie leichtsinnig genug gewesen war, in den Hügeln zu bleiben, als von Westen schwarze Sturmwolken herangezogen waren. Ihr Bruder war umgekommen, weil er bewußt einen gefährlichen Beruf gewählt hatte, um ihren Vater zu ärgern. Und ihre Mutter… Anna wußte nicht, weshalb ihre Mutter Selbstmord verübt hatte. Diese Frage hätte nur ihr Vater beantworten können. Aber eines wußte Anna ganz sicher: Sie hatte sich aus einem bestimmten Grund erschossen. Ihr Freitod war keine Folge eines auf der Familie lastenden Fluchs gewesen.
So wenig wie der Tod ihres Vaters…
Aber weshalb war er ermordet worden? Am Tag vor der Beisetzung war sie von Kriminalbeamten der Züricher
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