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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Kopf hob, um sie auf dem Fußboden zu zertrümmern. Aber statt dessen drückte sie das Instrument an ihre Brust und hielt es schluchzend umarmt. Abends im Café erzählte er dann Manuel von dieser Szene, deren Augenzeuge er geworden war. Manuel griff nach dem Telefonhörer, rief die Auskunft an und ließ sich die Nummer der Firma European Artistic Management in London geben.
    Achtundvierzig Stunden später traf eine kleine Delegation ein.
    Sie bestand aus einer Engländerin namens Fiona, einem Amerikaner, der Gregory hieß, und Herrn Lang, einem mürrischen Deutschen. Jeden Vormittag machte Gregory mit Unserer Lieben Frau mehrere Stunden lang anstrengende Übungen, um die Kraft und Beweglichkeit ihrer linken Hand wiederherzustellen. Nachmittags wartete Herr Lang im Übungsraum auf sie und unterrichtete sie darin, wieder ihr Instrument zu spielen. Ihre Fähigkeiten kehrten allmählich zurück, aber sogar der Gärtner Carlos hörte, daß sie nicht mehr dieselbe Musikerin war wie vor ihrem Unfall.
    Im Oktober reiste die Delegation wieder ab, und Unsere Liebe Frau blieb allein zurück. Ihre Tage verliefen nach demselben Rhythmus wie früher, aber sie war jetzt vorsichtiger, wenn sie mit ihrem roten Motorroller fuhr, und brach zu keiner Wanderung über die Hügel auf, ohne sich zuvor den Wetterbericht anzuhören.

    An Allerseelen verschwand sie wieder einmal. Als sie in ihren Range Rover stieg und in Richtung Lissabon davonfuhr, beobachtete Carlos, daß sie nur einen schwarzen Lederkoffer, aber keinen Geigenkasten mitnahm. Als er am nächsten Tag im Café Manuel erzählte, was er gesehen hatte, zeigte der Besitzer ihm eine Meldung in der International Herald-Tribune. Da der Gärtner natürlich kein Englisch konnte, übernahm Manuel die Übersetzung.
    »Der Tod des Vaters ist eine schreckliche Sache«, sagte Carlos. »Aber ein Mord… das ist viel schlimmer.«
    »Ganz recht«, sagte Manuel, indem er die Zeitung zusammenfaltete. »Aber du solltest hören, was ihrer armen Mutter zugestoßen ist.«
    Carlos arbeitete im unteren Weinberg, wo er die Rebstöcke für den kommenden Winter vorbereitete, als Unsere Liebe Frau aus der Schweiz zurückkehrte. Sie blieb kurz in der Einfahrt stehen, um die Haarspangen herauszunehmen und ihr Haar im Seewind auszuschütteln, dann verschwand sie in der Villa. Im nächsten Augenblick sah er sie am Fenster ihres Übungsraums vorbeihuschen. Obwohl es allmählich dunkel wurde, machte sie kein Licht. Unsere Liebe Frau übte immer bei Dunkelheit.
    Als sie zu spielen begann, senkte Carlos seinen Kopf und arbeitete weiter; seine Gartenschere schnippte rhythmisch, beinahe im Takt zum Donnern der Brandung unten am Strand.
    Dies war ein Stück, das sie frühe r oft gespielt hatte - eine geheimnisvolle, sehnsüchtige Sonate, die angeblich der Teufel selbst geschrieben hatte -, aber seit ihrem Unfall war sie dazu nicht mehr imstande gewesen. Er machte sich auf die unvermeidliche Explosion gefaßt, aber nach fünf Minuten verstummte das Schnippen seiner Schere, und Carlos hörte mit wachsendem Erstaunen zu.
    Die Luft war kühler geworden, leichte Nebelschleier krochen vom Meer her den Hügel herauf. Carlos zündete den Stapel Holzabschnitte an und ging vor den Flammen in die Hocke. Sie näherte sich einem schwierigen Teil des Stücks, einer tückischen Abwärtstonleiter - eine Teufelspassage, dachte er lächelnd.
    Auch diesmal war Carlos auf einen Ausbruch gefaßt, aber heute abend explodierte nur die Musik, bevor sie in die ruhige Auflösung des ersten Satzes überging.
    Nach einigen Sekunden Pause begann sie mit dem zweiten Satz. Carlos drehte sich um und sah hügelaufwärts. Die Villa lag im orangeroten Schein des Sonnenuntergangs. Die Haushälterin María war draußen damit beschäftigt, die Terrasse abzukehren.
    Carlos nahm seinen Hut ab, hielt ihn hoch und wartete darauf, daß Maria ihn sah - Geschrei und überhaupt jeglicher Lärm war streng verboten, während Unsere Liebe Frau übte. Kurze Zeit später hob Maria ihren Kopf, und der Besen hielt mitten in der Bewegung inne. Carlos machte eine fragende Handbewegung.
    Was denkst du, María? Hat sie ihre Krise überwunden? Die Haushälterin faltete die Hände und sah zum Himmel auf. Herr, ich danke dir.
    In der Tat, dachte Carlos, während er beobachtete, wie der Abendwind den Rauch seines Holzfeuers zerteilte. Herr, ich danke dir. Heute abend ist die Welt in Ordnung. Das Wetter ist gut, die Rebstöcke sind für den Winter bereit, und Unsere Liebe

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