Der Engländer
weniger. Brauchten Leute jemanden, um Geld oder Besitztümer in der Schweiz zu verstecken, war Augustus Rolfe ihr Freund.
Er war einer der diskretesten und einflußreichsten Züricher Bankiers. Und er hatte sehr mächtige Freunde. Das macht seine Ermordung für mich um so rätselhafter.«
»Was wissen Sie sonst noch über ihn?«
»Nach dem frühen Tod seines Vaters hat er die Leitung der Bank Anfang der dreißiger Jahre übernommen - in einer für Schweize r Banken sehr schwierigen Zeit. Die Weltwirtschafts-krise, die Inflation in Deutschland, eine Währungskrise in Österreich… das alles hat sich auch auf Zürich ausgewirkt.
Schweizer Banken sind wie Dominosteine gefallen. Viele Privatbanken mußten mit größeren Konkurrenten zusammen-gehen, um zu überleben. Rolfe hat es mit Müh und Not geschafft, sich seine Selbständigkeit zu bewahren.« Jacobi befeuchtete einen Finger und blätterte um. »Dann kam Hitler in Deutschland an die Macht und fing sofort an, die Juden zu drangsalieren. Jüdisches Kapital und Wertsachen strömten auf Züricher Privatbanken natürlich auch zu Rolfe.«
»Wissen Sie das sicher?«
»Hundertprozentig. Ich kann bestätigen, daß Augustus Rolfe über zweihundert Nummernkonten für deutsche Juden eröffnet hat.«
Jacobi überblätterte einige Seiten des Dossiers.
»Hier hören die Fakten auf, und die Gerüchte setzen ein. Ende der dreißiger Jahre begannen in Zürich Gestapo-Agenten aufzutauchen. Sie waren auf der Suche nach all den jüdischen Geldern, die heimlich aus Deutschland herausgeschafft und bei Schweizer Banken deponiert worden waren. Gerüchte besagen, Rolfe habe gegen das Schweizer Bankgeheimnis verstoßen, mit den Gestapo-Agenten zusammengearbeitet und ihnen Auskunft über die Nummernkonten jüdischer Kunden seiner Bank gegeben.«
»Weshalb hätte er das tun sollen?«
»Möchten Sie meine Theorie hören?«
»Gern.«
»Weil er wußte, daß die von ein paar Juden deponierten Gelder nichts im Vergleich zu den Reichtümern waren, die ihn erwarteten, wenn er mit Hitler-Deutschland kooperierte.«
»Gibt es Hinweise darauf, daß er das getan hat?«
»Allerdings«, sagte Jacobi, wobei seine Augenbrauen über die Brillenränder nach oben schossen. »Tatsache ist, daß Augustus Rolfe im Zweiten Weltkrieg häufig nach Deutschland gereist ist.«
»Mit wem hat er dort gesprochen?«
»Das ist nicht bekannt, aber seine Reisen waren so verdächtig, daß nach Kriegsende in der Schweiz gegen Rolfe ermittelt wurde.«
»Was ist dabei herausgekommen?«
»Absolut nichts. Rolfe tauchte wieder in den Züricher Finanzsektor ab und hielt seinen Namen aus den Medien heraus - bis vor einer Woche, versteht sich, als jemand in seine Villa am Zürichberg eingedrungen ist und ihm eine Kugel durch den Kopf gejagt hat.«
Jacobi klappte das Dossier zu und sah Gabriel erwartungsvoll an.
»Möchten Sie jetzt weitererzählen, Mr. Allon?«
Als Gabriel fertig war, konzentrierte Professor Jacobi sich lange darauf, seine Brillengläser mit dem breiten Ende seiner Krawatte zu polieren. Dann schob er sie wieder auf seine Stirn hoch und goß sich noch eine Tasse Kaffee ein. »Sieht ganz so aus, als seien Sie durch die große Verschwörung des Schweigens abgeblockt worden.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Haben Sie mit der Schweiz zu tun, Mr. Allon, sollten Sie sich eines merken: Die Schweiz ist kein richtige r Staat. Sie ist ein Unternehmen, und sie wird wie eines geführt. Als ein Unternehmen, das sich in ständiger Abwehrbereitschaft befindet. So geht es seit nunmehr siebenhundert Jahren.«
»Was hat das mit dem Mord an Rolfe zu tun?«
»In der Schweiz gibt es Leute, die sehr viel zu verlieren hätten, wenn die Sünden der Vergangenheit aufgedeckt und die Gullys in der Bahnhofstraße so gründlich durchgespült würden, wie es nötig wäre. Diese Leute bilden eine unsichtbare Regierung, und sie können gefährliche Gegner sein, was der Grund dafür ist, daß ich hier statt in Lausanne lebe. Sollten Sie Ihre Ermittlungen fortsetzen wollen, rate ich Ihnen, sich vorzusehen.«
Zehn Minuten später ging Gabriel mit seinem Exemplar von Le Mythe unter dem Arm die Treppe hinunter. Bevor er das Haus verließ, blieb er kurz stehen, schlug das Buch auf und las die Worte, die der Professor auf die Titelseite gekritzelt hatte.
Nehmen Sie sich vor den Gnomen von Zürich in acht - Emil Jacobi.
Dieses Bild von Gabriel wurde von dem Mann festgehalten, der mit einer Digitalkamera mit Teleobjektiv an
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