Der Engländer
wären Schweizer Bankiers nicht so geldgierig gewesen.
Bald nach dem Erscheinen von Der Mythos wurde Professor Jacobis Leben in der Schweiz zunehmend unbehaglicher. Er erhielt Morddrohungen, sein Telefon wurde abgehört, und Leute der Sektion Auswertung/Abwehr überwachten ihn auf Schritt und Tritt. Da er sich in der Schweiz nicht mehr sicher fühlte, gab er seinen Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Lausanne auf und folgte einem Ruf der Universität Lyon.
Gabriel brauchte den halben folgenden Tag, um ihn dort aufzuspüren.
Er hinterließ zwei Nachrichten auf Jacobis privatem Anrufbeantworter und zwei weitere bei seiner sehr unkooperativen Sekretärin in der Universität. Um 13 Uhr 30 rief Jacobi ihn auf seinem Handy an und erklärte sich zu einem Treffen bereit. »Kommen Sie heute abend um sechs in meine Wohnung. Dann können wir miteinander reden.« Er ratterte seine Adresse herunter und legte abrupt auf. So mußte Gabriel noch etwa vier Stunden warten. In einer Buchhandlung in der Nähe der Universität fand er ein Exemplar von Le Mythe, der französischen Ausgabe von Der Mythos, und verbrachte den Rest des Nachmittags damit, in einem Café an der Place des Terreaux zwischen Studenten sitzend darin zu lesen.
Um achtzehn Uhr erwartete der Professor ihn im Eingangsbereich seines Apartmentgebäudes in der Rue Lanterne. Er trug ein abgewetztes Tweedsakko, und seine randlose Brille war in ein Vogelnest aus widerspenstigen grauen Haaren hochgeschoben. Sein rechtes Hosenbein wurde von einer verchromten Spange zusammengehalten, damit der Aufschlag nicht in die Fahrradkette geraten konnte. »Willkommen im Exil«, sagte er müde, während er mit Gabriel in den dritten Stock hinauffuhr. »Wir Schweizer halten die Redefreiheit hoch, aber nur wenn der Redende sich jeglicher Kritik an der Schweiz enthält. Ich habe die Todsünde eines guten Schweizers begangen, deshalb sitze ich jetzt hier in Lyon in einem goldenen Käfig.«
Auf dem Treppenabsatz vor seiner Tür mußte der Professor lange zwischen losen Blättern und abgegriffenen Skripten in seinem Rucksack herumwühlen, bis er seine Schlüssel fand. Als er sie endlich gefunden hatte, betraten sie eine kleine, spärlich eingerichtete Wohnung, in der sich überall Bücher, Manuskripte und Zeitschriften türmten. Gabriel lächelte zufrieden. Hier war er am rechten Ort.
Jacobi schloß die Wohnungstür und hängte seinen Rucksack über die Klinke. »Sie wollen also mit mir über den Mord an Augustus Rolfe reden? Zufällig habe ich seinen Fall aufmerksam verfolgt.«
»Das habe ich mir gedacht. Vielleicht könnten wir unsere Erkenntnisse austauschen.«
»Sind Sie ebenfalls Historiker, Mr. Allon?«
»Von Beruf bin ich Restaurator, aber in dieser Sache arbeite ich für die israelische Regierung.«
»Nun, das verspricht, ein interessanter Abend zu werden.
Räumen Sie diesen Sessel ab und nehmen Sie schon mal Platz.
Ich mache uns Kaffee.«
Professor Jacobi verbrachte mehrere Minuten damit, in seinen hoch aufgetürmten Papierstapeln nach dem Dossier über Rolfe zu fahnden. Es war ziemlich dünn.
»Augustus Rolfe war ein Privatbankier im wahrsten Sinne des Wortes, Mr. Allon. Vieles von dem, was ich Ihnen erzählen werde, basiert auf Mutmaßungen und Vermutungen, fürchte ich.«
»Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Gerüchte, die jemanden umschwirren, oft sehr aufschlußreich sein können.«
»Hat man es mit einem Schweizer Bankier, vor allem mit einem Privatbankier wie Augustus Rolfe zu tun, kann man häufig bestenfalls auf Gerüchte hoffen.« Der Professor rückte seine Brille zurecht und schlug das Dossier auf. »In Zürich gibt es einerseits sehr kleine Privatbanken und andererseits weltweit operierende Riesenbanken. Giganten wie die Union Bank of Switzerland und die Credit Suisse haben eigene Abteilungen fürs Privatkundengeschäft, die allerdings nur sehr reiche Kunden annehmen.«
»Ab welcher Mindesteinlage?«
»Die beträgt im allgemeinen rund fünf Millionen Dollar.
Unbestätigten Berichten nach sollen die Geheimdienste Ihres Landes den Privatkundensektor der Credit Suisse für ihre Zwecke genutzt haben.« Der Professor musterte Gabriel über das aufgeschlagene Dossier hinweg. »Aber davon wissen Sie sicher nichts?«
Gabriel ignorierte diese Frage. »Nach allem, was ich über Augustus Rolfe weiß, hat er zur ersten Kategorie gehört.«
»Richtig. Seine Bank war ein sehr kleines Unternehmen - Rolfe und ein halbes Dutzend Angestellte, vielleicht sogar
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