Der Engländer
ein sprachgesteuertes Tonaufzeichnungssystem zu installieren. Professor Emil Jacobi gehörte nicht zu ihnen.
Seine Arbeit war sein Leben, und er hatte wenig Zeit für irgend etwas anderes jedenfalls für nichts, was ihn in Verlegenheit hätte bringen können, wenn es auf Tonband aufgezeichnet wurde.
In seiner Wohnung in der Rue Lanterne empfing Jacobi einen stetigen Strom von Besuchern: Menschen mit schlimmen Erinnerungen an die Vergangenheit, mit grausigen Geschichten, die sie im Krieg selbst erlebt hatten. Erst letzte Woche hatte eine alte Frau ihm von einem Güterzug erzählt, der Anfang 1944 außerhalb ihres Dorfes gehalten hatte. Sie hatte mit Freundinnen auf einer Wiese an den Gleisen gespielt, als sie jammernde Stimmen und Kratzgeräusche hörten, die aus den Waggons kamen. Als sie näher herangingen, sahen sie, daß die Güterwagen voller Menschen waren: elende, zerlumpte Gestalten, die um Essen und Wasser bettelten. Heutzutage wußte die alte Frau, daß diese Menschen Juden gewesen waren - und daß ihr Land zugelassen hatte, daß die Nazis seine Eisenbahnen zum Transport menschlicher Fracht in die Vernichtungslager im Osten benützten.
Hätte Jacobi versucht, den Bericht dieser Zeitzeugin zu dokumentieren, indem er sich Notizen machte, während sie sprach, hätte er unmöglich alle Einzelheiten festhalten können.
Hätte er ein Tonbandgerät vor ihr aufgebaut, wäre sie vielleicht befangen gewesen. Jacobi hatte die Erfahrung gemacht, daß die meisten älteren Leute nervös wurden, wenn sie sich Videokameras und Mikrophonen gegenübersahen. Und so hatten sie wie alte Freunde in seiner unaufgeräumten, aber behaglichen Wohnung gesessen, und die alte Frau hatte ihm ihre Geschichte erzählt, ohne durch ein Notizbuch oder ein sichtbares Tonbandgerät abgelenkt oder eingeschüchtert zu werden. Und trotzdem hatte Jacobis geheimes Aufzeichnungssystem jedes ihrer Worte festgehalten.
Im Augenblick war der Professor dabei, sich eine Aufnahme anzuhören. Er spielte sie wie gewöhnlich ziemlich laut ab, weil er aus Erfahrung wußte, daß er sich besser konzentrieren konnte, wenn er den Straßenlärm und die Geräusche aus der Studentenwohnung nebenan ausblendete. Aus dem Lautsprecher drang jedoch nicht die Stimme einer alten Frau, sondern eine Männerstimme: die Stimme des Mannes, der ihn am Vortag aufgesucht hatte. Gabriel Allon. Eine erstaunliche Geschichte, diese Story von Augustus Ro lfe und seiner verschwundenen Kunstsammlung. Jacobi hatte dem Israeli versprochen, niemandem von ihrem Gespräch zu erzählen, aber sobald diese Geschichte ans Tageslicht kam, was sie irgendwann tun würde, konnte er ohne schlechtes Gewissen mit Insiderwissen darüber schreiben. Das würde ein weiterer Schlag gegen Jacobis Todfeinde von der Züricher Finanzoligarchie sein und seine Beliebtheit in seiner Heimat auf einen neuen Tiefstand sinken lassen. Diese Vorstellung gefiel ihm. Gullys ausspülen war eben Schmutzarbeit.
Emil Jacobi war von Allons Bericht genauso fasziniert wie beim ersten Mal - so von ihm gefesselt, daß er die Gestalt, die lautlos in seine Wohnung eingedrungen war, erst bemerkte, als es zu spät war. Er öffnete den Mund und wollte um Hilfe rufen, aber der Mann erstickte seinen Schrei mit eisernem Griff. Der Professor sah das Glitzern einer Messerklinge, die in einem Bogen auf ihn zukam, dann spürte er einen brennenden Schmerz quer über der Kehle. Als es um ihn dunkel wurde, sah Jacobi noch, wie sein Mörder nach dem Kassettenrekorder griff und ihn einsteckte, bevor er die Wohnung verließ.
27 - WIEN
In den westlichen Außenbezirken von Wien mußte Gabriel das Lenkrad fest umklammern, um zu verhindern, daß ihm die Hände zitterten. Er war seit dem nächtlichen Bombenanschlag nicht mehr in dieser Stadt gewesen - seit jener Nacht aus Feuer und Blut und tausend Lügen nicht mehr. Er hörte eine Sirene und war sich nicht sicher, ob das Wirklichkeit oder nur Erinnerung war, bis er die blauen Blinkleuchten eines Krankenwagens in seinem Rückspiegel sah. Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen, als er bremste und rechts heranfuhr. Er erinnerte sich daran, wie er neben Leah in einem Krankenwagen mitgefahren war und darum gebetet hatte, sie möge von den schrecklichen Schmerzen, die sie wegen ihrer Brandverletzungen hatte, erlöst werden - um jeden Preis. Er erinnerte sich daran, wie er über den zerfetzten Leichnam seines Sohnes gebeugt dagesessen hatte, während der Chef des österreichischen Sicherheitsdienstes
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