Der Engländer
Aufgabe ein: Nazis und ihre geraubten Schätze aufzuspüren.
»Und was führt dich nach Wien? Geschäfte? Vergnügen?«
»Augustus Rolfe.«
»Rolfe? Der Bankier?« Lavon senkte den Kopf und funkelte Gabriel über seine Halbbrille hinweg an. »Gabriel, du hast ihn doch nicht etwa…« Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern imitierte mit der rechten Hand eine Pistole und betätigte einen imaginären Abzug.
Gabriel schüttelte wortlos den Kopf. Er zog den Reißverschluß seiner Jacke auf, holte den Umschlag heraus, den er in Rolfes Schreibtisch versteckt gefunden hatte, und übergab ihn Lavon. Der Archäologe öffnete die hintere Klappe so vorsichtig, als gehe er mit einem kostbaren Ausgrabungsfund um, und zog den Inhalt heraus. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als er erst das eine, dann das andere Photo betrachtete. Danach sah er zu Gabriel auf und lächelte.
»Ich muß schon sagen, Herr Rolfe ist wirklich photogen. Wo hast du diese Bilder her, Gabriel?«
»Aus Rolfes Schreibtisch in seiner Züricher Villa.«
Lavon hielt die Durchschläge hoch. »Und die hier?«
»Auch von dort.«
Lavon betrachtete nochmals die Aufnahmen. »Phantastisch.«
»Was haben sie zu bedeuten?«
»Das kann ich erst sagen, wenn ich ein paar Akten herausgesucht habe. Ich sorge dafür, daß meine Mädchen dir Kaffee und einen kleinen Imbiß machen. Diese Sache wird uns einige Zeit beschäftigen.«
Sie saßen sich in einem rechteckigen Besprechungszimmer am Tisch gegenüber und hatten einen Aktenstapel zwischen sich.
Gabriel fragte sich, was für Leute vor ihm auf diesem Stuhl gesessen haben mochten: alte Männer, die der Überzeugung waren, der Mann in der Wohnung nebenan sei in Buchenwald einer ihrer Peiniger gewesen; Kinder, die versuchten, an ein Nummernkonto in der Schweiz zu gelangen, auf dem ihr Vater seine gesamten Ersparnisse versteckt hatte, bevor er nach Osten in den Archipel des Todes abtransportiert worden war. Lavon griff nach einem der Photos - Rolfe in einem Restaurant mit einem Mann mit Schmissen im Gesicht - und hielt es hoch, damit Gabriel es sehen konnte.
»Erkennst du diesen Mann?«
»Nein.«
»Das war SS-Brigadeführer Schellenberg.« Lavon nahm das oberste Dossier von dem Stapel und schlug es vor sich auf. »Dr. Walter Schellenberg war Amtschef der Abteilung IV in Himmlers Reichssicherheitshauptamt. Die Abteilung IV befaßte sich mit Auslandsnachrichten, so daß Schellenberg bald zum internationalen Spionagechef der NSDAP avancierte. Er war an einigen der dramatischsten Geheimdienstepisoden des Zweiten Weltkriegs beteiligt: dem Venlo-Zwischenfall, dem Versuch, den Herzog von Windsor zu entführen, und dem Unternehmen Cicero. Im Nürnberger Prozeß wurde Schellenberg als Angehöriger einer verbrecherischen Organisation verurteilt, kam aber mit nur sechs Jahren Gefängnis sehr glimpflich davon.«
»Sechs Jahre? Weshalb?«
»Weil er in den letzten Kriegsmonaten dafür gesorgt hatte, daß einige Juden aus Todeslagern entlassen wurden.«
»Wie hat er das geschafft?«
»Er hat sie verkauft.«
»Warum hat der Spionagechef der NSDAP mit Augustus Rolfe diniert?«
»Nachrichtendienste in aller Welt haben eines gemeinsam: Sie brauchen Geld, viel Geld, um funktionieren zu können. Selbst Schamron könnte nicht ohne Geld überleben. Aber wenn Schamron Geld braucht, legt er einfach irgendeinem reichen Freund eine Hand auf die Schulter und erzählt ihm, wie er damals Eichmann gefaßt hat. Schellenberg hatte ein spezielles Problem. Sein Geld war außerhalb des deutschen Machtbereichs nichts wert. Er brauchte einen Bankier in einem neutralen Land, der ihm harte Devisen besorgen und dieses Geld über eine Scheinfirma oder einen Strohmann an seine Agenten im Ausland weiterleiten konnte. Schellenberg brauchte einen Mann wie Augustus Rolfe.«
Lavon griff nach den Schriftstücken, die Gabriel in Rolfes Schreibtisch entdeckt hatte. »Nehmen wir zum Beispiel diese Transaktion. Fünfzehnhundert Pfund Sterling, die am 23. Oktober 1943 vom Konto der Firma Pillar Enterprises Limited telegraphisch aufs Konto eines gewissen Iwan Edberg bei der Stockholmer Enskilde-Bank überwiesen wurden.«
Gabriel begutachtete den Durchschlag, dann schob er ihn wieder über den Tisch.
»Schweden war natürlich neutral, aber ein Tummelplatz für Agenten beider Seiten«, sagte Lavon. »Bestimmt hatte auch Schellenberg dort einen Agenten, wenn nicht sogar einen ganzen Agentenring. Ich vermute, daß Edberg einer dieser Agenten
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