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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Stephansdom und machte sich auf den Weg ins Judenviertel.
    Adolf Hitler hatte es beinahe geschafft, seinen barbarischen Traum, Wien »judenfrei« zu machen, zu verwirklichen. Vor dem Krieg hatten dort etwa zweihunderttausend Juden gelebt, die meisten in dem Gewirr aus Straßen und Gassen um den Judenplatz. Jetzt gab es in Wien nur noch wenige tausend Juden, vor allem Neuankömmlinge aus dem Osten, und das alte Judenviertel beherbergte jetzt eine Ansammlung von Boutiquen, Restaurants und Nachtlokalen. Bei den Wienern war es als das »Bermudadreieck« bekannt.
    Gabriel ging an den um diese Zeit noch geschlossenen Bars in der Sterngasse vorbei und bog dann in einen Durchgang ab, der an einer Steintreppe endete. Oben an der Treppe stand er vor einer massiven, mit Eisennäge ln beschlagenen Holztür. Neben dieser Tür war ein kleines Messingschild angebracht:
    ANSPRÜCHE UND ERMITTLUNGEN WEGEN KRIEGSSCHÄDEN
    BESUCHE NUR NACH ANMELDUNG.
    Er drückte auf den Klingelknopf.
    »Ja, bitte?«

    »Ich möchte zu Herrn Lavon.«
    »Haben Sie einen Termin?«
    »Nein.«
    »Herr Lavon empfangt keine unangemeldeten Besucher.«
    »Hier liegt ein Notfall vor, fürchte ich.«
    »Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«
    »Sagen Sie ihm, daß Gabriel Allon ihn sprechen möchte. Er wird sich an mich erinnern.«
    Proportionen und Einrichtung des Raums, in den Gabriel geführt wurde, waren ein Musterbeispiel für Wiener Klassizismus: eine hohe Decke, ein glänzend gebohnerter Parkettboden, der das durch hohe Fenster einfallende Tageslicht widerspiegelte, und wandhohe Bücherregale, die sich unter dem Gewicht zahlloser Aktenordner und Folianten bogen. Lavon schien darin zu verschwinden. Bis zur Unkenntlichkeit mit dem Hintergrund zu verschmelzen, war allerdings schon immer seine Spezialität gewesen.
    Lavon balancierte gefährlich auf einer Bibliotheksleiter, blätterte in einem überquellenden Ordner und murmelte dabei vor sich hin. Das durch die Fenster einfallende Licht hüllte ihn in einen grünlichen Schimmer, der Gabriel zeigte, daß die Scheiben aus schußfestern Panzerglas bestanden. Als Lavon seinen Besucher wahrnahm, senkte er ruckartig den Kopf, um über die nicht sehr sauber geputzte Halbbrille hinwegsehen zu können, die weit vorn auf seiner Nase saß. Dabei fiel Zigarettenasche in die aufgeschlagene Akte. Aber das schien er nicht zu bemerken, denn er klappte den Ordner zu, stellte ihn an seinen Platz im Regal zurück und lächelte freudig überrascht.
    »Gabriel Allon! Ari Schamrons Racheengel. Mein Gott, was führt dich hierher?«
    Er stieg wie ein Mann mit Altersbeschwerden die Leiter hinunter. Wie immer schien er alle Kleidungsstücke, die er besaß, auf einmal zu tragen: einen beigen Unterziehpullover mit Rollkragen, ein blaues Oberhemd mit festgeknöpften Kragenspitzen, eine Wollweste und eine schlabberige Tweedjacke mit Fischgrätenmuster, die mindestens eine Größe zu groß zu sein schien. Er war schlecht rasiert und trug Socken, aber keine Schuhe.
    Lavon ergriff Gabriels Hände und küßte ihn auf beide Wangen. Wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen?
    Fünfundzwanzig Jahre, dachte Gabriel. Im Sprachgebrauch des Unternehmens »Zorn Gottes« war der Archäologe Lavon ein ajin, ein Fährtensucher, gewesen. Er hatte Mitglieder des Schwarzen Septembers aufgespürt, ihre Gewohnheiten beobachtet und Pläne zu ihrer Ermordung ausgearbeitet. Lavon war ein erstklassiger Beschatter gewesen, ein Chamäleon, das seine Färbung beliebig verändern und sich jedem Hintergrund anpassen konnte. Der Rachefeldzug hatte von ihnen allen einen schrecklichen physischen und psychologischen Tribut gefordert, aber Gabriel wußte noch gut, daß Lavon am meisten gelitten hatte. Da er auf sich allein gestellt gearbeitet hatte und seinen Feinden über lange Zeit hinweg ausgesetzt gewesen war, hatte er ein chronisches Magengeschwür bekommen, das seinen ohnehin schon hageren Körper um weitere zehn K ilogramm hatte abmagern lassen.
    Nach dem Unternehmen »Zorn Gottes« war Lavon Dozent an der Hebräischen Universität geworden und hatte seine Wochenenden mit Ausgrabungen auf der West Bank verbracht.
    Aber es hatte nicht lange gedauert, bis er andere Stimmen hörte.
    Wie Gabriel war er ein Kind von Holocaust-Überlebenden. Die Suche nach historischen Artefakten erschien ihm trivial, solange es weiterhin so vieles aus der jüngsten Vergangenheit auszugraben gab. Er ließ sich in Wien nieder und setzte seine beachtlichen Talente für eine andere

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