Der Engländer
im Zimmer nebenan Ari Schamron mit Vorwürfen überhäufte, weil die Wiener Innenstadt durch seine Schuld zu einem Kriegsgebiet geworden sei.
Gabriel ordnete sich wieder in den Verkehr ein. Die Disziplin, die das Autofahren von ihm forderte, trug dazu bei, seinen Gefühlsaufruhr abklingen zu lassen. Eine Viertelstunde später hielt er in der Nähe des Stephansdoms vor einem Souvenirshop.
Anna öffnete die Augen.
»Wohin willst du?«
»Bin gleich wieder da.«
Er betrat den Laden und kam fünf Minuten später mit einer bedruckten Plastiktüte in der Hand zurück. Er gab sie Anna. Sie zog die beiden Gegenstände heraus, die er gekauft hatte: eine Sonnenbrille mit großen Gläsern und eine Baseballmütze mit dem über dem Schirm eingestickten Wort Wien!
»Was soll ich damit?«
»Erinnerst du dich, was auf dem Lissabonner Flughafen passiert ist, als wir nach Zürich geflogen sind, weil du mir die Kunstsammlung deines Vaters zeigen wolltest?«
»Ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir, Gabriel. Hilf meinem Gedächtnis auf die Sprünge.«
»Eine Frau hat dich angehalten und um ein Autogramm gebeten.«
»Das passiert mir dauernd.«
»Eben! Setz die Sachen mal auf.«
Anna setzte die Sonnenbrille auf und steckte ihr Haar unter die Mütze. Sie warf einen Blick in den Make-up-Spiegel in ihrer Sonnenblende, dann wandte sie sich Gabriel zu.
»Wie sehe ich aus?«
»Wie eine berühmte Persönlichkeit, die sich mit einer großen Sonnenbrille und einer dämlichen Mütze zu tarnen versucht«, sagte er müde. »Aber vorläufig muß diese Verkleidung reichen.«
Er fuhr zum Hotel Kaiserin Elisabeth in der Weihburggasse und trug sich dort unter dem Allerweltsnamen Schmidt ein. Sie bekamen ein Zimmer mit honiggelbem Teppichboden. Anna ließ sich rückwärts aufs Bett fallen, ohne Mütze und Sonnenbrille abzunehmen.
Gabriel ging ins Bad und betrachtete sein Gesicht lange im Spiegel über dem Waschbecken. Er hob die rechte Hand an seine Nase, roch Pulverdampf und Rauch und glaubte, die Gesichter der beiden Männer zu sehen, die er in Zürich in der Villa Rolfe erschossen hatte. Dann ließ er heißes Wasser ins Becken laufen und wusch sich Hände und Nacken. Plötzlich war das Bad von Gespenstern angefüllt - bleiche, leblose Männer mit Einschußwunden in Kopf oder Brust. Er senkte den Blick und sah, daß das Waschbecken mit ihrem Blut angefüllt war. Er trocknete sich die Hände mit einem Handtuch ab, aber das nützte nichts - das Blut war noch immer da. Dann begann der Raum sich vor seinen Augen zu drehen, und Gabriel sackte vor der Toilette auf die Knie.
Als er ins Zimmer zurückkam, lag Anna ohne Mütze und Sonnenbrille mit geschlossenen Augen auf der Seite. »Alles in Ordnung?« murmelte sie.
»Ich muß noch mal weg. Aber du bleibst hier, okay? Mach niemandem die Tür auf außer mir.«
»Du bleibst nicht lange fort, ja?«
»Nicht allzu lange.«
»Ich bleibe wach, bis du zurückkommst«, murmelte Anna schläfrig.
»Wie du willst.«
Im nächsten Augenblick war sie eingeschlafen. Gabriel zog eine leichte Decke über sie und verließ das Zimmer.
Unten erklärte Gabriel dem übermäßig beflissenen Hotelangestellten am Empfang, Frau Schmidt dürfe auf keinen Fall gestört werden. Der junge Mann nickte eifrig, als wolle er den Eindruck vermitteln, er sei bereit, sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen, daß Frau Schmidts Ruhe nicht gestört werde.
Gabriel schob ihm einen Geldschein über die Theke und verließ das Hotel.
Er ging über den Stephansplatz, vergewisserte sich, daß er nicht beschattet wurde, und speicherte Gesichter in seinem Gedächtnis. Dann betrat er den Dom und ließ sich mit dem Touristenstrom durchs Hauptschiff treiben, bis er einen Seitenaltar erreichte. Er sah zu dem Altarbild mit einer Darstellung des Martyriums des heiligen Stephan auf. Die Restaurierung dieses Gemäldes hatte er an jenem Abend abgeschlossen, an dem die Autobombe unter Leahs Wagen detoniert war. Seine Arbeit hatte sich gut gehalten. Nur wenn er mit schiefgelegtem Kopf die Augen zusammenkniff und genau hinsah, konnte er die von ihm ergänzten Stellen vom Original unterscheiden.
Gabriel drehte sich um und suchte die Gesichter der Menschen hinter sich ab. Er erkannte keinen von ihnen wieder.
Aber etwas anderes fiel ihm auf: Alle Dombesucher waren von der Schönheit dieses Altarbilds hingerissen. Also hatte sein damaliger Aufenthalt in Wien doch etwas Gutes bewirkt. Nach einem letzten Blick auf das Gemälde verließ er den
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