Der Engländer
dem Stimmungstief des Engländers rasch die Runde. Am Markttag schritt er schweigend über den Dorfplatz und suchte verdrossen seinen Käse und seine Oliven aus. Abends hockte er mit den Alten zusammen, wich aber jedem Gespräch aus und weigerte sich boule mitzuspielen, selbst als seine Ehre angezweifelt wurde. Der Engländer war so geistesabwesend, daß er die Jungen auf ihren Skateboards nicht zu bemerken schien.
Seine Fahrweise hatte sich dramatisch verschlechtert. Die Dorfbewohner sahen ihn mit seinem klapprigen Jeep durchs Tal rasen. Einmal mußte er Don Casabiancas elendem Ziegenbock ausweichen und landete dabei im Straßengraben. Daraufhin griff Antonio Orsati ein. Er erzählte dem Engländer von einer berüchtigten Fehde zwischen zwei rivalisierenden Familien, die aus dem Unfalltod eines Jagdhundes entstanden war. Vier Menschen waren ermordet worden, bevor endlich Frieden geschlossen wurde - zwei davon durch die Hände von taddunaghiu der Orsatis. Das war vor hundert Jahren passiert, aber Orsati betonte, die daraus zu ziehenden Lehren seien noch heute gültig. Sein kluger Hinweis auf korsische Verhältnisse wirkte genau wie erwartet. Am nächsten Morgen brachte der Engländer Casabianca einen großen Schinken und entschuldigte sich dafür, daß er seinen Ziegenbock erschreckt hatte. Danach fuhr er merklich langsamer.
Trotzdem war irgend etwas unverkennbar nicht in Ordnung.
Einige der Alten vom Dorfplatz waren so besorgt, daß sie der signadora einen Besuch abstatteten. »Er ist längere Zeit nicht mehr hier gewesen. Aber wenn er wiederkommt, könnt ihr Gift darauf nehmen, daß ich euch Eseln nichts von seinen Geheimnissen erzähle. Dieses Haus ist wie ein Beichtstuhl. Und jetzt macht, daß ihr fortkommt!« Sie scheuchte die Alten mit einem Reisigbesen hinaus.
Nur Don Orsati wußte, warum der Engländer in so gedrückter Stimmung war. Schuld daran war der Auftrag in Lyon: die Liquidierung des Schweizer Professors Emil Jacobi. Irgend etwas an diesem Mord hatte dem Engländer Gewissensbisse beschert. Orsati erbot sich, ein Mädchen für ihn kommen zu lassen - eine bildhübsche Italienerin, die er in San Remo kennengelernt hatte -, aber der Engländer lehnte dankend ab.
Drei Tage nach der Rückkehr des Engländers aus Lyon lud Orsati ihn zum Abendessen ein. Sie speisten in einem Restaurant unweit des Dorfplatzes und spazierten danach Arm in Arm durch die kaum beleuchteten Gassen. Zweimal tauchten vor ihnen aus dem Dunkel Dorfbewohner auf und hasteten in Gegenrichtung davon. Jeder wußte, daß es ratsam war, sich zu verziehen, wenn Don Orsati privat mit dem Engländer sprach.
Bei dieser Gelegenheit erzählte Orsati dem Engländer von dem Auftrag in Venedig.
»Wenn ich lieber einen der anderen Jungs schicken soll…«
»Nein«, sagte der Engländer rasch. »Das erledige ich lieber selbst.«
»Bestimmt?«
»Ja.«
»Ich hatte gehofft, daß du das sagen würdest. Für diesen Job ist keiner der anderen wirklich geeignet. Außerdem wird dir der Auftrag Spaß machen, glaube ich. Unsere Arbeit hat in Venedig eine lange Tradition. Die ganze Atmosphäre wird dich anregen.«
»Du hast bestimmt recht.«
»Ich habe dort einen Freund namens Rossetti. Von ihm bekommst du alles, was du an Unterstützung brauchst.«
»Hast du die Dossiers mitgebracht?«
Nur ein so mächtiger Mann wie Antonio Orsati konnte die Dossiers zweier Menschen, deren Ermordung er plante, auf dem Beifahrersitz seines unversperrten Autos liegen lassen. Der Engländer las sie im Lichtschein einer Straßenlampe auf dem Dorfplatz. Als er das zweite Dossier aufschlug, blitzte in seinem Blick ein Ausdruck des Erkennens auf, den selbst Orsati bemerken mußte.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«
»Diesen Mann kenne ich - aus einem früheren Leben.«
»Ist das ein Problem?«
Er klappte das Dossier zu. »Durchaus nicht.«
Der Engländer blieb bis spätnachts auf und hörte sich das Tonband an, das er aus dem Apartment des Professors in Lyon mitgenommen hatte. Dann ging er den Stapel Presseberichte und Nachrufe durch, die er aus Online-Zeitungen im Internet heruntergeladen hatte, und studierte zuletzt die Dossiers, die Antonio Orsati ihm erst an diesem Abend übergeben hatte. Er schlief nur wenige Stunden; am nächsten Morgen stellte er vor Tagesanbruch eine kleine Reisetasche auf den Rücksitz seines Jeeps und fuhr ins Dorf.
Er parkte in einer Gasse in der Nähe der Kirche und ging zu Fuß zum Haus der signadora weiter. Als er leise an ihre
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