Der entgrenzte Mensch
später darüber spekuliert, ob es, ähnlich wie bei einem Stromausfall in den Sechziger Jahren in New York, auch im katholischen Münsterland zu einem Babyboom kommen werde.
Anscheinend unterliegen die Wahrnehmung und das Gefühl von Abhängigkeit einem faktisch gelebten Verbot. Sie zählen zu jenen neu entstandenen Wahrnehmungsverboten, die von vielen Menschen geteilt werden und deshalb gesellschaftliche Tabus genannt werden. Solche Tabus sind existenziell hoch besetzte Verbote. Mit ihnen wird das, was einer Gesellschaft besonders heilig ist, geschützt, weil dieses »Heilige« für den Zusammenhalt und das Fortbestehen dieser Gesellschaft als unverzichtbar angesehen wird. So lässt sich von den heutigen gesellschaftlichen Tabus auf das schließen, was uns als heilig, unantastbar und unhinterfragbar gilt.
Gesellschaftlich tabu ist es, so haben bereits die wenigen Beobachtungen zum Umgang mit dem Stromausfall im Münsterland
nahegelegt, dass jemand an seine Abhängigkeit erinnert wird und für sie Verantwortung übernehmen soll. Vor allem aber soll niemand mit Gefühlen in Berührung kommen, die mit dem Erleben von Abhängigkeit einhergehen, nämlich mit Gefühlen von Angst, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Solche Gefühle sind gesellschaftlich tabu, weil sie das Allerheiligste des gegenwärtigen Menschen, sein grenzenloses Freiheitsstreben , in Frage stellen. Wer die Abhängigkeit des Menschen anspricht und ihre kognitive und emotionale Wahrnehmung verlangt, übt Verrat an dem, was in zunehmendem Maße diese Gesellschaft im Innersten zusammenhält: ein grenzenloses Freiheitsstreben. Dieses tritt vor allem als absolutes Entgrenzungsstreben in Erscheinung, womit ein Streben nach Entgrenzung gemeint ist, das frei von jeder Vor- und Maßgabe ist. Jedes Insistieren auf Grenzen und Einschränkungen wird deshalb bereits als Verrat am Autonomieanspruch angesehen.
Die skizzierten psychologischen Schlussfolgerungen unterstellen einen Zusammenhang zwischen der Tabuisierung des Abhängigkeitserlebens und dem als grenzenloses Freiheitsstreben gedeuteten Entgrenzungsstreben. Um diesen Zusammenhang begründet aufzeigen zu können, soll in weiteren Kapiteln von der heute allgegenwärtigen Entgrenzungsdynamik und von jenen Faktoren gesprochen werden, die das Entgrenzen sämtlicher Wirklichkeitsbereiche ermöglichen. Erst dann wird im sechsten Kapitel von den Auswirkungen auf den Menschen und vom entgrenzten Menschen zu sprechen sein. Der Umgang des entgrenzten Menschen mit dem begrenzten Leben provoziert die Frage, wozu Grenzen überhaupt gut sind und ob es Grenzen gibt, die uns das Leben zumutet.
Die Rede von Entgrenzung und Begrenzung, von Grenzenlosigkeit, Grenzüberschreitung, Grenzverletzung usw. lässt es sinnvoll erscheinen, in einem zweiten Kapitel den Begriff der »Entgrenzung« näher zu definieren und das Entgrenzungsdenken ideengeschichtlich zu verorten.
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SPRACHLICHES UND IDEENGESCHICHTLICHES
SPRACHLICHES ZUM BEGRIFF »ENTGRENZUNG«
In die deutsche Sprache hat das Wort »Entgrenzung« erst im 20. Jahrhundert Eingang gefunden. Sieht man von einzelnen lyrischen Sprachschöpfungen ab, dann taucht das Wort »Entgrenzung« zuerst als »Ich-Entgrenzung« in der Psychopathologie auf. Dort bezeichnet es eine Ausweitung des Icherlebens mit Hilfe von psychotropen Substanzen oder auf Grund narzisstischer Größenvorstellungen. Auch wird das Wort »Entgrenzung« mit der Ich-Auflösung in Verbindung gebracht, die bei manchen psychiatrischen Krankheitsbildern zu beobachten ist.
In aller Munde ist das Wort erst durch die Globalisierung der Wirtschaft gekommen. Versteht man unter Globalisierung vor allem die Organisation von Produktion, Arbeit und Märkten über alle nationalstaatlichen Grenzen hinweg, lässt sich von entgrenzter Produktion und Arbeit sowie von entgrenzten Märkten sprechen. Auch die zunehmende Durchlässigkeit nationalstaatlicher Grenzen im Zusammenhang mit dem Werden der Europäischen Union führte in den Sozialwissenschaften, und hier vor allem in der Politikwissenschaft, zur Etablierung des Begriffs
»Entgrenzung« - der Entgrenzung von Ökonomie, Politik und Gesellschaft. Seither weitet sich der Begriffsgebrauch immer weiter aus.
Hinsichtlich seiner sprachlichen Herkunft ist zwischen der Präposition »ent-« und dem Wort »Grenze« zu unterscheiden. Das aus dem Slawischen entlehnte Wort »Grenze« wurde vor allem mit Martin Luthers Schriften bekannt und bis ins 19. Jahrhundert bevorzugt nur im räumlichen
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