Der entgrenzte Mensch
entbundene Beziehungskonstruktion baut. Wird nun dieses alte Bindungserleben durch einen besonders fürsorglichen Arbeitskollegen oder eine sehr empathische Kollegin wiederbelebt, gerät die Abwehr ins Wanken und mit ihr die auf Entbindung setzende Partnerschaft oder Ehebeziehung.
Unabhängig davon, weshalb im Einzelnen und von wem die Auflösung der entbundenen Beziehung gewollt wird, Trennungen werden von entgrenzten Menschen meist ohne Trennungsangst und besondere Gefühlsdramatik vollzogen; sie machen nicht traurig und werden auch nicht als Verlust erlebt. Eine aus dem Entgrenzungsstreben hervorgegangene Konstruktion ist dazu da, wieder entgrenzt zu werden. In der Sprache betroffener Partner ausgedrückt, wird ein Beziehungs-Projekt zu Ende gebracht, um zu neuen Ufern aufzubrechen.
INSZENIERTE GEFÜHLE
In psychologischer Hinsicht besonders auffällig ist der Umgang entgrenzter Menschen mit den eigenen Gefühlen. Gefühle gehören neben dem Wollen (in Gestalt leidenschaftlicher Strebungen und Charakterbildungen) und den Vorstellungen (in Gestalt von Fantasien) zu den wichtigsten Äußerungsweisen der psychischen Dimension des Menschen. Wie wichtig es ist, Gefühlen Raum zu geben und Ausdruck zu verschaffen, statt sie zu verdrängen, wird heute von niemandem mehr ernsthaft in Frage gestellt. Psychoneurotische und organneurotische Erkrankungen entwickeln sich meistens, weil Gefühle verdrängt werden. Gefühle zu spüren, mitteilen und ausdrücken zu können, ist deshalb etwas Unverzichtbares.
Dennoch ist der Gefühlsausdruck grundsätzlich bzw. hinsichtlich bestimmter Gefühle vielen Einschränkungen und gesellschaftlichen Regulierungen unterworfen. So ist es in Gesellschaften, in denen das Ich-Erleben nur in einer weitreichenden Identifikation mit dem Kollektiv möglich ist, kaum vorstellbar, die eigenen Gefühle als etwas Individuelles und vom kollektiven Fühlen Unterschiedenes wahrzunehmen und auszuleben (weshalb es übrigens in solchen Gesellschaften auch kaum eine am Individuum orientierte Psychotherapie gibt). Dass Gefühle als etwas ganz Individuelles angesehen werden, so dass ein Mensch seine eigenen Gefühle als etwas Intimes, Unverwechselbares und höchst Individuelles wahrnimmt, setzt kulturelle und gesellschaftliche Prozesse voraus, die auf eine Individualisierung des Einzelnen und der Vielen zielen. Aber selbst, wo den eigenen Gefühlen diese individualisierende und identitätsbildende Funktion zugesprochen wird, wird der Ausdruck bestimmter Gefühle gesellschaftlich tabuisiert oder doch wenigstens kanalisiert. Gefühle der Feindseligkeit etwa oder der Gewalt sind nur in der Bekämpfung des Bösen oder im Dienste einer guten Sache oder unter Einhaltung von Fairnessregeln im Sport erlaubt.
Es gibt auch gesellschaftliche Entwicklungen (und entsprechende Gesellschafts-Charakterorientierungen), bei denen das Fühlen selbst und das Stehen zu Gefühlen als etwas Anormales, zu Vermeidendes und Hinderliches angesehen wird. Wenn nur zählt, was gemessen und berechnet werden kann, wird der gefühllose, coole, reine Verstandesmensch zur Norm erhoben, und werden Gefühle, eben weil sie etwas höchst Lebendiges und meist Unberechenbares sind, grundsätzlich gemieden und als irreal und unvernünftig stigmatisiert.
Umso spannender ist die Frage, wie der Begrenztheiten meidende Mensch mit Gefühlen und dem eigenen Fühlen umgeht, befindet er sich doch in einem Dilemma: Auf der einen Seite sind Gefühle etwas, die er hinter sich lassen will und muss, wenn er seine Persönlichkeit selbstbestimmt, neu und anders konstruieren will. Auf der anderen Seite sind aber Gefühle etwas höchst Individuelles, Lebendiges und Belebendes und eine äußerst effektive Möglichkeit, Wirklichkeit, Kontakt und Kommunikation herzustellen. Schon allein deshalb kann auf sie bei einer selbstbestimmten Neukonstruktion der eigenen Persönlichkeit kaum verzichtet werden.
Dieses Dilemma löst der entgrenzte Mensch dadurch, dass für ihn Gefühle wieder »in« sind und er »voll auf ›emotion‹ abfährt«, die erzeugten Gefühle aber nichts mit der eigenen gefühlten Befindlichkeit zu tun haben dürfen. Durch die Inszenierung von Gefühlen schafft man beides: Man entgrenzt die Wahrnehmung auf das Fühlen hin und gleichzeitig entgrenzt man das Fühlen von den Vorgaben und Begrenztheiten der eigenen Gefühle auf die sehr viel eindrucksvolleren Möglichkeiten inszenierter Gefühle hin. Dies gilt sowohl für den aktiven Typus als auch für
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