Der entgrenzte Mensch
Simulationstechnik ganz andere Gefühlswelten zu erzeugen imstande sind, als je ein Mensch an eigenen Gefühlen spüren und äußern könnte. Gefühle zu simulieren und erzeugte Gefühle mitzufühlen, ist um vieles
faszinierender und eindrucksvoller, als seine eigenen Gefühle zu spüren oder auch: spüren zu müssen.
Um eine virtuell erzeugte Gefühlswelt als die reale wahrnehmen zu können, muss deshalb die eigene fühlbare Befindlichkeit ausgeblendet werden: Nur wenn der Betreffende nicht mehr spürt, wie es ihm selbst gerade geht, welche Gefühle in ihm sind und sein Selbsterleben dominieren, kann er eine virtuelle Gefühlswelt erzeugen und »authentisch« kommunizieren bzw. eine derart erzeugte Gefühlswelt im Mitfühlen als die reale und eigene wahrnehmen. Vor allem aber müssen jene Gefühle und gefühlten Selbstwahrnehmungen ausgeblendet werden, die sich einer Virtualisierung widersetzen, weil sie die Funktion haben und in sich die Tendenz tragen, einen auf den Boden der vorgegebenen und begrenzten Realität zurückzuholen. Sie sind deshalb hinderlich für ein Leben in simulierten Gefühlswelten. Diese Widerständigkeit tragen sie allerdings in sich, weil sie zur Bewältigung und Gestaltung des vorgegebenen Lebens unerlässlich sind und deshalb nicht folgenlos ausgeblendet werden können. Um welche Aspekte gefühlten Erlebens es dabei handelt, soll an folgenden Beispielen verdeutlicht werden.
MANGEL AN BINDUNGSKRÄFTEN ERZEUGT STRESS
Als widerständig und deshalb mittels besonderer Maßnahmen aus dem Selbsterleben auszublenden, sind eigene Gefühle, die mit Bindung und Trennung zu tun haben . Sehnsucht zu spüren oder einen anderen Menschen zu vermissen, mit jemandem mitzuleiden, solidarische und fürsorgliche Gefühle zu zeigen, aber auch jemanden zu hassen, einem anderen etwas heimzahlen zu müssen
oder ihn gar auslöschen zu wollen, sind die größten Hindernisse für ein entgrenztes, das heißt bindungsloses Verbundensein. Das Ausblenden solcher, im Dienste von Bindungs- und Trennungsprozessen stehender Gefühle ermöglicht zwar ein Erleben von Ungebundenheit und Freiheit, ist aber bei allen Lebensaufgaben, wo es um Bindung und Trennung geht, nur hinderlich. Kinder wollen sich binden und trennen können, benötigen Bindungsangebote und Trennungshilfen, brauchen nicht nur verlässliche Eltern, sondern auch solche, die sich von Kindern trennen können. Kranke und Alte benötigen Gefühle der Zuwendung, Wertschätzung und Fürsorglichkeit, aber auch des Zuspruchs, vom Leben Abschied nehmen zu können und zu dürfen.
Werden eigene Bindungs- und Trennungsgefühle ausgeblendet, versucht man mit ihnen in den inszenierten und simulierten Welten wieder in Kontakt zu kommen, um sie dort miterleben zu können. Dies erklärt die erhöhte Attraktivität von medialen Inszenierungen und Filmen, die in virtuellen Welten spielen, in denen es um Liebe, Sehnsucht, Treue, Neid, Eifersucht, Trennungen, Verlusterfahrungen, Krieg, Untergang, Mord und Totschlag geht. Hier kann jeder Bindungs- und Trennungsgefühle als simulierte eigene Gefühle mitspüren, ohne zu merken, dass es gar nicht seine eigenen Gefühle sind.
Der - psychologisch gesehen - entscheidende Punkt ist aber die Wiederkehr des Verdrängten und Abgespaltenen, nämlich des eigenen gefühlten Erlebens von Bindung und Trennung in einem übersteigerten Bedürfnis, mit der virtuellen Welt verbunden zu sein und über sie selbstbestimmt verfügen zu können. In dem Maße, in dem eigene Bindungsgefühle und -wünsche ausgeblendet sind, lässt sich ein gesteigertes Bedürfnis nach Verbundenheit mit den inszenierten und virtuellen Gefühlswelten beobachten. Wer dann mit einem Beziehungsproblem konfrontiert ist, versucht dieses im Stile und in der Semantik der inszenierten Gefühlswelten etwa von Fernsehserien zu bearbeiten. Statt seine eigene, tatsächliche Gefühlssituation zu spüren und zu artikulieren, tauscht man eine erlernte Drehbuchrhetorik aus. Das Ausblenden
eigener Bindungsgefühle und -wünsche enthält deshalb ein hohes Potenzial, von solchen Gefühlswelten psychisch abhängig zu werden.
Eine solche Abhängigkeit zeigt sich auch in einer steigenden Zahl von Online-Spielsüchtigen. Vor diesem Hintergrund lassen sich Ergebnisse von empirischen Untersuchungen über die gewalterzeugende Wirkung von Onlinespielen ganz anders verstehen: Die von Jane Barnett von der Middlesex University geleitete Untersuchung zu »World of Warcraft« (Barnett u.a. 2010) etwa
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