Der entgrenzte Mensch
statt, mit denen in der menschlichen Umwelt oder im fremd gewordenen Körper das Bedrohliche außerhalb des Selbsterlebens bekämpft wird. Gerade die mit Abspaltungen einhergehende Verleugnung verlagert deshalb das Problem meist nur ins Psychosomatische oder nach Außen und belastet damit das Selbsterleben und das Zusammenleben erheblich.
Angesichts der psychischen Folgen von Ausblendungen drängt sich die Frage verstärkt auf, was denn der virtuelle Mensch mittels Verdrängungen und Abspaltungen nicht mehr wahrnehmen will.
Der entgrenzte Mensch wird von einer Lust an der Entgrenzung angetrieben. Dieses Entgrenzungsstreben bringt ihn dazu, in erster Linie sein gewordenes und deshalb de-finiertes (»begrenztes«) Eigensein auszublenden sowie alles, was dieses gewordene Eigensein begründet: seine eigenen körperlichen, geistigen und psychischen Fähigkeiten und Antriebe, aber auch alles, was ihn unverwechselbar und eigentümlich hat werden lassen. Nur wer die Begrenztheit seiner »gewachsenen« Persönlichkeit überwindet und alles Eigene auszublenden versucht, das mit Vorgaben, Gewordensein und Maßgaben zu tun hat, kann sich frei und ungebunden fühlen. Und nur, wer sich mit Hilfe des »gemachten« Vermögens in Gestalt virtueller Welten und virtueller Persönlichkeits- und Kommunikationskonstruktionen selbst neu erfindet, kann einigermaßen sicher sein, dass ihn sein begrenztes Eigensein nicht wieder einholt.
Virtuelle Menschen, die das gewordene Eigensein ausblenden, verzichten deshalb nicht auf ein Identitätserleben; allerdings konstruieren sie es anders. Kein Mensch kann auf das Erleben seines Eigenseins verzichten, auch der virtuell entgrenzte Mensch nicht. Auf Grund des Bewusstseins seiner selbst und seines Vorstellungsvermögens hat jeder Mensch ein unabdingbares Bedürfnis, nicht nur auf die Wirklichkeit außerhalb von sich, sondern auch auf sich selbst bezogen zu sein und eine durch ihn gestaltete Antwort zu geben. Erich Fromm spricht deshalb von einem existenziellen
Bedürfnis nach einem Identitätserleben (Fromm 1955, S. 46-48), das jeder Mensch befriedigen muss (und sei es, dass er es mit einer schizophrenen Abspaltung befriedigt und sich als Napoleon, Jesus oder Teufel erlebt). Für den virtuellen Menschen ist allerdings typisch, dass er alles gewordene Eigene ausblendet und sich die unbegrenzten Möglichkeiten virtueller Identitäten aneignet. Indem er auf die virtuellen Möglichkeiten des Eigenseins setzt, sich diese frei wählt und je nach Bedürfnislage aneignend zueigen macht, kann er selbst bestimmen, wer er in welcher Situation und bei welcher Anforderung sein möchte.
Die Identitätskonstruktion des virtuellen Menschen lässt sich jedoch immer nur auf Kosten der geistigen und seelischen Eigenkräfte herstellen. Die Eigenkräfte stehen, wie bereits ausgeführt wurde, dem Menschen nur dann als Fähigkeiten und Antriebskräfte zur Verfügung, wenn sie praktiziert werden. Werden sie ausgeblendet, bleiben sie ungeübt. Die Folge ist, dass sie als Antriebskräfte verkümmern, weshalb sich virtuelle Menschen unbewusst auch zunehmend als antriebslos erleben. Bewusst wird ihnen dieser Mangel an Antriebskräften (das heißt an Interesse, Aktivität, Kreativität, Liebe, Verantwortung, Vertrauen, Fantasie, Gestaltungswille usw.) so lange nicht, als sie diese auf das gemachte Vermögen projizieren und deshalb in abgespaltener Form in den virtuellen Realitätskonstruktionen wiederfinden können. Die Cyberwelt oder auch das erfolgreiche Persönlichkeitstraining, vor allem aber das Verbundensein und Kommunizieren mit Menschen, die ihre Persönlichkeit ebenso virtuell konstruieren, ermöglicht ihnen ein Leben als virtuelle Persönlichkeiten, die sich beseelt und aktiviert erleben, ohne dass sie sich fremdgesteuert fühlen.
Allerdings, auch darauf wurde schon hingewiesen, funktioniert diese Realitätskonstruktion nur, solange der virtuelle Mensch an ihr Anteil hat, er über das »gemachte« Vermögen verfügen und deshalb sein Eigen nennen kann. Diese Abhängigkeit wird nur ungern bewusst erlebt und zugegeben. Dass sie unterschwellig immer auch wahrgenommen wird, zeigt sich in dem permanenten
Drang, die virtuellen Konstruktionen vor Infragestellungen und Zusammenbrüchen (und den damit einhergehenden Entzugserscheinungen) zu schützen. Dies geschieht zum einen dadurch, dass der Zugang zu virtuellen Welten gesichert und ausgebaut wird, so dass das Verbundensein nicht mehr gefährdet werden kann; zum
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