Der entgrenzte Mensch
Ausbildung beendet hat, besitzt jetzt das Zeug, in eigener Verantwortung zum Beispiel elektrische Geräte zu installieren oder zu reparieren. Es bewegt ihn der Wunsch, diese Selbstständigkeit auch betrieblich zu wagen. Die in Rente gehende Angestellte, wird von der Pflicht zu abhängiger Erwerbstätigkeit entbunden und kann endlich selbstbestimmt ihr Leben gestalten. Sie zählt deshalb bereits die Tage, bis sie keinen Wecker mehr stellen muss.
Alle genannten Veränderungen bezüglich des Selbstvermögens haben Auswirkungen darauf, wie jemand emotional auf sich selbst und auf andere bezogen ist, und drängen nach einer Überwindung des bisher gültigen Beziehungserlebens. Es entwickelt sich das Bedürfnis, der Wille und der Mut, das bisherige Beziehungserleben hinter sich lassen zu wollen und noch einmal anders geboren zu werden - mit Möglichkeiten, die es bisher nicht gab. Dieser Wunsch, neu geboren zu werden, Neuland zu betreten, seine Vorfindlichkeit transzendieren zu wollen, hat aber auch eine Kehrseite: Man muss zugleich vom bisherigen Beziehungserleben Abschied nehmen. Nicht nur die Art, wie man auf andere bezogen ist, sondern auch das Selbsterleben steht zur Disposition. Unter Umständen muss man ein solches Ausmaß an Vertrautheit und Sicherheit hinter sich lassen, dass der Wunsch nach Grenzüberschreitung gelähmt wird und man sozusagen vor dem Sprung zurückweicht.
Es entstehen zwei sich widerstreitende Gefühlszustände, die wie zwei Seelen in der Brust erlebt werden: Neben der Lust, das Neue in Erfahrung bringen zu wollen und neue Bindungsmöglichkeiten auszuprobieren, ist es vor allem die Freude über den Zuwachs an Freiheit und autonomen Fähigkeiten, die die Grenzüberschreitung beflügeln . Diesem motivierenden und antreibenden Gefühlszustand stehen zwei andere Gefühle gegenüber, die eine eher Unlust erzeugende Wirkung haben: die Angst vor der Trennung
vom Bisherigen und die Trauer über den mit der Grenzüberschreitung einhergehenden Verlust an Beziehungen. Sich vor einer Trennung zu ängstigen und über einen Verlust traurig zu sein, sind notwendige Begleiterscheinungen jeder psychischen Grenzüberschreitung und Entwicklung. Sie können so stark sein, dass sie eine Grenzüberschreitung behindern (so dass es zu einer nur »halbherzigen«, kompromissbesetzten neuen Bindung kommen kann) oder sogar vereiteln (so dass es zu einer Fixierung auf der bisherigen Bindungsebene bleibt).
Neben vielen, meist weniger dramatisch erlebten psychischen Grenzüberschreitungen lassen sich - zumindest in unserer auf ein hohes Maß an Abgrenzung, Individualität, individueller Freiheit und Autonomie setzenden Kultur - drei große, besonders schwierige psychische Grenzüberschreitungen beobachten: Der Schritt in ein Leben begrenzter Zuwendung in der Kindheit, der Schritt in ein selbst verantwortetes Leben beim Erwachsenwerden und der Schritt in ein alterndes Leben, das sich vergänglich erlebt und mit weniger zufrieden sein muss. Dass diese Schritte als besonders schwierig erlebt werden, lässt sich am erhöhten Angstpegel und an der gesteigerten Unfähigkeit zur Trauer erkennen sowie an zahlreichen psychischen und somatoformen Erkrankungen, die durch eine Vermeidung des Erlebens von Angst und Trauer hervorgerufen werden. Diese Folgen sprechen dafür, dass das Abschiednehmen für viele überfordernd und der Verlust des Bisherigen unerträglich ist.
Diese drei besonders komplikationsreichen psychischen Grenzüberschreitungen sollen kurz skizziert werden: Da ist zunächst der partielle Abschied von der bedingungslosen Liebe, die für das Beziehungserleben der ersten zwei bis drei Lebensjahre unerlässlich ist. Er ermöglicht den Überschritt in ein Leben, in dem es in zunehmendem Maße Zuwendung in Gestalt einer bedingten Liebe gibt, das heißt als Wertschätzung und Anerkennung auf Grund von eigenen Leistungen. Der zweite große Abschied ist der vom Kindsein und dem mit ihm gegebenen Schutz- und Versorgungsanspruch. Er ermöglicht den Überschritt in ein erwachsenes, aus
eigenen Kräften schöpfendes, selbstbestimmtes, aber auch selbstverantwortetes und das Überleben (mittels Erwerbsarbeit und Familiengründung) selbst besorgendes Leben.
Beim dritten großen Abschied muss sich der Mensch mit dem Nachlassen seiner Kräfte auseinandersetzen und von einem Leben Abschied nehmen, das selbstbestimmt und leistungsfähig und sowohl ökonomisch als auch menschlich in hohem Maße produktiv war und darin als wertvoll,
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