Der entgrenzte Mensch
sinnvoll, erfüllend und befriedigend erlebt wurde. Der Abschied ängstigt erheblich, und die Angst wird nur teilweise durch die Freude auf ein von der Erwerbsarbeit entbundenes Dasein vermindert. Der drohende Verlust der Kraftfülle löst unterschiedlichste Abwehrreaktionen aus, um sich über die verminderte Lern- und Merkfähigkeit, mangelnde Ausdauer und körperliche Leistungsfähigkeit, die Verschleißerscheinungen und den Kräfteverzehr hinwegzutäuschen. Wer mit dem drohenden Verlust hadert, ihn beklagt, seiner Enttäuschung über ein solches verlustorientiertes Leben Ausdruck verleihen kann, beginnt, um diesen Verlust zu trauern und kann die Kraftfülle Vergangenheit werden lassen. Nur so kommt es zu einer Verinnerlichung dieser Kraftfülle - zu etwas, das es tatsächlich gab, das in der Erinnerung fortlebt und deshalb zu einem innerlich selbst gehört. Auf diese Weise wird der Mensch fähig, mit weniger zufrieden zu sein, und kann er die verbleibenden Möglichkeiten - die kulturellen, geistig-spirituellen, intellektuellen, musischen, künstlerischen, vor allem aber zwischenmenschlichen Interessen und Bezogenheitsformen - in ihrer ganzen Begrenztheit wertschätzen und ausschöpfen.
KREATIVE ODER ENTGRENZENDE GRENZÜBERSCHREITUNG?
Die vorstehend genannten drei Grenzerfahrungen wurden vor allem auf Grund psychotherapeutischer Erfahrungen als die in unserer Kultur besonders schwierigen erkannt. Gemeinsam ist ihnen, dass die mit ihnen einhergehende Angst und Ungewissheit oft nicht zugelassen und durchgestanden werden kann; vor allem aber wird ein Abschiednehmen gemieden, bei dem man sich traurig, enttäuscht, wütend, verraten, verloren, ohnmächtig fühlen würde. Solche Gefühle bringen den Einzelnen an die Grenze dessen, was er ertragen und verkraften kann. Ihre Unerträglichkeit hindert ihn, die Grenze zu überschreiten. Anders als die körperliche Entwicklung zeichnet sich die psychische durch ein Werden und Sterben, das heißt durch einen psychischen Geburtsprozess bis zum physischen Tod aus. Kommt es zu keiner Grenzüberschreitung, dann kann es psychologisch auch zu keiner Erinnerung und Verinnerlichung und deshalb zu einer psychischen Weiterentwicklung kommen. Die verhinderte Grenzüberschreitung führt deshalb dazu, dass man an das Vergangene real gebunden bleibt, »obwohl die Vergangenheit ab einem bestimmten Zeitpunkt zur Fessel wird« (Fromm 1992, S. 132).
Bei der ersten der genannten Grenzüberschreitungen entwickelt sich keine Fähigkeit zu einem Urvertrauen in sich und andere (denn Urvertrauen ist die Fähigkeit, die aus der Erinnerung und Verinnerlichung der bedingungslosen Liebe erwächst). So bleibt nur der Ausweg, von Urvertrauen ermöglichenden Kräften abhängig zu bleiben bzw. sich gegen jede Infragestellung des Lebens durch Versicherungen abzusichern. Bei der zweiten der erörterten Grenzüberschreitungen entwickelt sich keine Verantwortlichkeit für das eigene Leben und für das Leben der anderen (denn selbst verantwortlich sein zu können, ist die Erinnerung und Verinnerlichung der als Kind erfahrenen Verantwortung und Fürsorglichkeit anderer, von der mit dem Erwachsenwerden Abschied
zu nehmen ist). Hier bleibt nur der Ausweg, die Eltern, den Staat, die Gesellschaft, die sozialen Hilfs- und Sicherungssysteme in die Verantwortung zu nehmen sowie die Verantwortung für andere den anderen zu überlassen.
Bei der dritten Grenzüberschreitung entwickelt sich keine Fähigkeit, die Begrenztheit und Vergänglichkeit des Lebens anzuerkennen und selbst mit weniger zufrieden zu sein. Zu der inneren Fähigkeit, sich vergänglich erleben zu können, kommt es nur, wenn jemand, von der erreichten Kraftfülle »satt« geworden, sich ihrer erinnern kann und deshalb Abschied genommen hat. Dass für alternde Menschen Erinnerungen immer wichtiger werden, ist ein Zeichen ihrer Fähigkeit, sich vergänglich erleben zu können. Entwickeln sie sie nicht, dann bleibt oft nur der Ausweg eines unersättlichen Hungers nach Leben, der mit Panik auf alle Erfahrungen der Begrenztheit und Vergänglichkeit des Lebens reagiert und den Tod als den größten Feind des Lebens begreifen muss - oder als den insgeheim ersehnten Erlöser, der einen aus einer quälenden Sehnsucht nach Leben befreit.
Die Anforderung, die an die letzte Grenzüberschreitung gestellt wird, macht noch einmal den Unterschied zwischen körperlicher und seelischer Entwicklung sowie physischem und psychischem Tod deutlich: Wem es nicht gelingt, die
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