Der entzauberte Regenbogen
Fossilfunden führen, ist schlechte poetische Wissenschaft. Gould kennt den Unterschied zwischen schnellem Gradualismus und Makromutation durchaus, aber er behandelt das Thema, als handele es sich um ein nebensächliches Detail, mit dem man sich beschäftigen kann, nachdem die übergeordnete Frage, ob Evolution sprunghaft oder graduell abläuft, abgehandelt wurde. Als übergeordnet kann man sie nur betrachten, wenn man sich an schlechter Poesie berauscht hat. Das ist ebensowenig sinnvoll wie die Frage meines Leserbriefschreibers, ob die DNA-Doppelhelix ihre Form von der Erdumlaufbahn habe. Noch einmal: Der schnelle Gradualismus hat mit Makromutationen nicht mehr Ähnlichkeit als ein blutender Zauberer mit einem Regenschauer.
Noch schlimmer ist es, wenn auch die Katastrophentheorie unter das Dach der unterbrochenen Gleichgewichte geholt wird. In vordarwinistischer Zeit wurden die Fossilien für die Bewahrer der biblischen Schöpfungsgeschichte immer peinlicher. Manche hofften, sie könnten das Problem in der Sintflut ertränken, aber warum zeigten die Gesteinsschichten ganz offensichtlich einen tief greifenden Austausch ganzer Tierwelten, die sich jeweils völlig von ihren Vorgängern unterschieden und in denen unsere heutigen, bekannten Lebewesen überhaupt nicht vorkamen? Die Antwort, die der französische Anatom Baron Cuvier und andere im 19. Jahrhundert gaben, war die Katastrophentheorie. Danach war Noahs Sintflut nur die letzte in einer ganzen Reihe reinigender Krisen, die eine übernatürliche Macht der Erde gesandt hatte. Auf jede Katastrophe folgte eine neue Schöpfung.
Wenn man einmal von den göttlichen Eingriffen absieht, hat diese Vorstellung eine gewisse – geringe – Ähnlichkeit mit unserer heutigen Überzeugung, dass auf Ereignisse des Massenaussterbens wie am Ende von Perm und Kreidezeit jeweils ein neues Aufblühen der entwicklungsgeschichtlichen Vielfalt und die Wiederherstellung der früheren Artenzahl folgten. Aber die Vertreter der Katastrophentheorie mit den Anhängern der Makromutationen und den heutigen Vertretern des unterbrochenen Gleichgewichts in einen Topf zu werfen, nur weil man alle drei als nicht-gradualistisch bezeichnen kann, ist wirklich sehr schlechte Poesie.
Bei meinen Vorträgen in den Vereinigten Staaten habe ich mich oft darüber gewundert, dass die anschließenden Fragen aus dem Publikum einem bestimmten Prinzip folgen. Jemand macht mich auf das Phänomen des Massenaussterbens aufmerksam, beispielsweise auf das katastrophale Ende des Dinosaurierzeitalters und die darauf folgende Zeit der Säugetiere. Das weckt mein Interesse, und ich freue mich auf eine anregende Frage. Dann erkenne ich, dass die Frage unverkennbar in herausforderndem Ton gestellt ist. Nach Ansicht des Fragestellers soll ich offensichtlich überrascht oder unangenehm berührt sein, weil die Evolution in regelmäßigen Abständen durch katastrophales Massenaussterben unterbrochen wurde. Darüber wunderte ich mich, bis mir plötzlich ein Licht aufging. Natürlich! Wie viele Nordamerikaner, so hatte auch der Fragende seine Kenntnisse über die Evolution von Gould, und der hatte mich als einen jener «ultradarwinistischen» Gradualisten abgestempelt! Ob denn der Komet, der die Dinosaurier umbrachte, nicht auch meine gradualistischen Ansichten über die Evolution hinweggefegt habe? Nein, natürlich nicht. Da besteht nicht der geringste Zusammenhang. Ich bin Gradualist in dem Sinne, dass Makromutationen nach meiner Überzeugung in der Evolution keine große Rolle gespielt haben. Noch entschiedener werde ich zum Gradualisten (und das Gleiche gilt für jeden anderen geistig gesunden Menschen, auch für Gould), wenn es darum geht, die Evolution komplexer, angepasster Merkmale wie der Augen zu erklären. Aber was um alles in der Welt haben solche Themen mit dem Massenaussterben zu tun? Nicht das Geringste. Es sei denn, man hat seinen Geist mit schlechter Poesie voll gestopft. Nur der Vollständigkeit halber: Ich glaube und habe während meiner gesamten Berufslaufbahn geglaubt, dass Ereignisse des Massenaussterbens einen tief greifenden, dramatischen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Evolution hatten. Wie könnte es auch anders sein? Aber das Massenaussterben ist kein Teil des darwinistischen Ablaufes, wenn man einmal davon absieht, dass es die Bühne für einen neuen darwinistischen Anfang freimacht.
Hier lauert eine Ironie. Gould betont gern, wie launisch das Aussterben ist. Er bezeichnet es als zufällig.
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