Der entzauberte Regenbogen
die Wirbeltiere und daneben ein paar andere kleine Gruppen gehören). Selbst die Vorfahren zweier verschiedener Stämme, beispielsweise der Wirbeltiere und der Weichtiere, die aus heutiger Sicht grundverschiedene «Körperbaupläne» besitzen, waren einst nur zwei Arten innerhalb einer Gattung. Noch früher waren sie zwei geographisch getrennte Populationen innerhalb einer Vorläuferart. Aus dieser allgemein anerkannten Ansicht ergibt sich die Konsequenz, dass der Abstand zwischen zwei beliebigen Tiergruppen immer kleiner wird, je weiter man in die erdgeschichtliche Vergangenheit vordringt. Je weiter man sich in der Zeit rückwärts bewegt, desto näher kommt man der Stelle, wo sich die verschiedenen Tiergruppen in ihrer gemeinsamen Vorläuferart vereinigen. Unsere Vorfahren und die der Weichtiere waren sich irgendwann einmal sehr ähnlich. Später ähnelten sie sich nicht mehr ganz so stark. Noch später hatten sie sich wiederum weiter voneinander entfernt und so weiter, bis die Unterschiede schließlich so groß waren, dass wir sie als eigene Stämme bezeichnen. An diesem allgemeinen Ablauf kann kein vernünftiger Mensch bei genauem Nachdenken zweifeln, aber deshalb müssen wir nicht unbedingt davon ausgehen, dass er sich zu allen Zeiten mit der gleichen Geschwindigkeit abspielt. Er könnte durchaus in schnellen Schüben verlaufen sein.
Der dramatische Ausdruck «kambrische Explosion» wird in zweierlei Sinn verwendet. Zum einen bezeichnet man damit die Tatsache, dass es aus der Zeit vor dem Kambrium, also vor mehr als einer halben Milliarde Jahren, nur sehr wenige Fossilien gibt. Die meisten großen Tierstämme tauchen im Gestein des Kambriums zum ersten Mal als Fossilien auf, und das wirkt wie eine große, explosionsartige Zunahme neuer Tierformen. Und zum Zweiten meint man damit die Theorie, dass sich die Stämme tatsächlich im Kambrium aufgespalten haben, möglicherweise sogar in einem Zeitraum von nur zehn Millionen Jahren. Diese zweite Idee, die ich als Hypothese der Verzweigungspunkt-Explosion bezeichnen möchte, ist umstritten. Sie verträgt sich – gerade noch – mit dem, was ich neodarwinistisches Standardmodell der Auseinanderentwicklung von Arten nenne. Wie wir bereits gesehen haben, können wir zwei beliebige heutige Stämme in der Zeit zurückverfolgen, und immer treffen sie sich schließlich bei einem gemeinsamen Vorfahren. Nach meinem Eindruck werden wir diesen gemeinsamen Vorfahren aber für verschiedene Paare von Stämmen in unterschiedlichen erdgeschichtlichen Epochen finden: für Wirbeltiere und Weichtiere beispielsweise vor 800 Millionen Jahren, für Wirbeltiere und Stachelhäuter vor 600 Millionen Jahren und so weiter. Aber damit muss ich nicht Recht haben; man kann sich ohne weiteres der Hypothese von der Verzweigungspunkt-Explosion anschließen und annehmen, dass sich die meisten unserer in die Vergangenheit führenden Spuren aus irgendeinem Grund (der so interessant ist, dass man ihn genauer untersuchen müsste) in der gleichen, relativ kurzen Epoche der Erdgeschichte treffen, beispielsweise vor 540 bis 530 Millionen Jahren. Das würde bedeuten, dass die Vorfahren der heutigen Stämme zumindest zu Beginn dieser Periode von zehn Millionen Jahren nicht annähernd so unterschiedlich waren wie heute. Schließlich spalteten sie sich ja damals alle von gemeinsamen Vorfahren ab, und ursprünglich gehörten sie zu derselben Art.
Die extreme Gouldsche Sichtweise – die ihre Anregung sicher aus seinen Äußerungen bezieht, auch wenn man aufgrund seiner eigenen Worte nicht genau sagen kann, ob er sie selbst vertritt – unterscheidet sich grundlegend von dem neodarwinistischen Standardmodell und ist mit ihm völlig unvereinbar. Wie ich noch darlegen werde, ergeben sich daraus außerdem Folgerungen, die, wenn man sie klar durchdenkt, ganz offensichtlich absurd sind. Sehr deutlich ausgedrückt – besser sagt man vielleicht: verraten – wird das ganz nebenher in dem Buch Der Öltropfen im Wasser (1996) von Stuart Kauffman:
Naheliegend wäre die Annahme, daß die ersten Vielzeller einander sehr ähnlich waren und sich erst später von der Basis her in unterschiedliche Gattungen, Familien, Ordnungen, Klassen und so weiter aufspalteten. Genau dies würde der streng orthodoxe Darwinist erwarten. Darwin, der stark von der zeitgenössischen Theorie des geologischen Gradualismus beeinflußt war, glaubte, die Evolution vollziehe sich allein durch schrittweise Ansammlung vorteilhafter Varianten.
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