Der entzauberte Regenbogen
Wenn es zum Massenaussterben kommt, verschwinden ganze Tiergruppen. Am Ende der Kreidezeit wurde die zuvor beherrschende Gruppe der Dinosaurier vollständig hinweggefegt (mit der bemerkenswerten Ausnahme der Vögel). Welche große Gruppe betroffen ist, wird entweder vom Zufall bestimmt, oder wenn es sich nicht um Zufall handelt, ist es eine andere Nichtzufälligkeit als bei der herkömmlichen natürlichen Selektion. Die normale, dem Überleben dienende Anpassung hilft nicht gegen Kometen. Dass diese Tatsache manchmal aufgetischt wird, als sei sie ein Argument gegen den Neodarwinismus, ist grotesk. In Wirklichkeit spielt sich die neodarwinistische natürliche Selektion nicht zwischen Arten, sondern innerhalb der Arten ab. Sicher, zur natürlichen Selektion gehört der Tod und zum Massenaussterben gehört der Tod, aber alle weiteren Ähnlichkeiten zwischen beiden sind ausschließlich poetischer Natur. Paradoxerweise gehört Gould zu den wenigen Darwinisten, die heute noch glauben, dass die natürliche Selektion auch auf höheren Ebenen als der des einzelnen Lebewesens wirkt. Wir anderen würden nicht einmal auf die Idee kommen zu fragen , ob das Massenaussterben ein Selektionsereignis ist. Wir sehen höchstens, dass das Aussterben neue Gelegenheiten zur Anpassung eröffnet, weil die natürliche Selektion dann auf einer niedrigeren Ebene innerhalb der einzelnen Arten, welche die Katastrophe überlebt haben, zwischen den Individuen wählen kann. Eine weitere Ironie besteht darin, dass der Dichter Auden der Wahrheit viel näher kam:
Doch Katastrophen förderten nur das Experiment.
In der Regel gingen die Tauglichsten unter, doch die Unangepaßten,
durch ihr Scheitern in unbesiedelte Nischen getrieben,
änderten ihre Struktur und gediehen.
«Unpredictable but Providential (for Loren Eiseley)»
Mit meinem nächsten Beispiel für schlechte poetische Wissenschaft in der Paläontologie muss ich ein wenig weiter ausholen; für seine Beliebtheit ist wiederum Stephen Jay Gould verantwortlich, auch wenn er es in seiner extremen Form selbst nicht ausdrücklich vertritt. Viele Leser seines elegant geschriebenen Buches Wonderful Life (1989) waren von der Idee gefesselt, die gesamte Evolution habe eine besondere, einzigartige Phase durchgemacht, nämlich das Kambrium, jene Zeit vor etwas mehr als 500 Millionen Jahren, als die meisten großen Tiergruppen zum ersten Mal als Fossilien auftauchten. Es geht nicht nur darum, dass im Kambrium seltsame Tiere gelebt hätten. Natürlich waren sie seltsam. Die Lebewesen jeder Epoche haben ihre Besonderheiten, und die des Kambriums waren nachweislich fremdartiger als die meisten anderen. Aber hier steht die These zur Debatte, die gesamte Evolution sei im Kambrium seltsam verlaufen.
Nach der üblichen, neodarwinistischen Vorstellung von der Evolution biologischer Vielfalt spaltet sich eine Spezies in zwei Arten auf, wenn sich zwei Populationen so unähnlich werden, dass sie sich nicht mehr kreuzen können. Häufig beginnt eine solche Auseinanderentwicklung, wenn die Gruppen zufällig geographisch getrennt werden, denn dann können sich ihre Gene nicht mehr durch Sexualität vermischen, sodass sie sich in unterschiedliche Richtungen weiterentwickeln. Eine solche Auseinanderentwicklung kann durch natürliche Selektion vorangetrieben werden (und dann wird sie wegen der unterschiedlichen Lebensverhältnisse in zwei geographischen Gebieten wahrscheinlich in unterschiedlicher Richtung verlaufen), oder sie kann aus zufälliger Gendrift bestehen (da die beiden Populationen nicht mehr durch sexuelle Vermischung genetisch zusammengehalten werden, hindert nichts sie daran, auseinander zu «driften»). Hat eine solche getrennte Evolution lange genug gedauert, ist eine Kreuzung in beiden Fällen selbst dann nicht mehr möglich, wenn sich die Gruppen geographisch wieder vereinigen, und dann definiert man sie als verschiedene Arten.
Im weiteren Verlauf kann sich die Auseinanderentwicklung wegen der fehlenden Kreuzung verstärken. Aus getrennten Arten einer Gattung werden zu gegebener Zeit eigene Gattungen innerhalb einer Familie. Später stellt man zwischen den Familien eine so große Entfernung fest, dass die biologischen Systematiker lieber von Ordnungen sprechen, dann von Klassen und schließlich von Stämmen. Als Stämme bezeichnet man in der Fachsprache der Systematik die grundlegend unterschiedlichen Tiergruppen wie Weichtiere, Fadenwürmer, Stachelhäuter und Chordatiere (zu denen vor allem
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