Der entzauberte Regenbogen
Aber diese Lebensweise ist nach entwicklungsgeschichtlichen Maßstäben noch sehr jung. Bevor die Menschen Landwirtschaft betrieben, müssen sich die Mäuse von etwas anderem ernährt haben. Dieses andere war ihrer heutigen Nahrung zweifellos so ähnlich, dass sie ihre genetischen Fähigkeiten ummodeln konnten, als sich das agrarische Schlaraffenland auftat. Man hat Mäuse und Ratten als tierisches Unkraut bezeichnet (übrigens ein gutes poetisches Bild, das wirklich zum Verständnis beiträgt). Als Generalisten und Opportunisten tragen sie Gene, mit denen ihre Vorfahren vermutlich unter einem ganzen Spektrum unterschiedlicher Bedingungen überleben konnten, und die Gene aus der Zeit vor der Landwirtschaft stecken auch heute noch in ihnen. Wer versucht, in ihren Genen zu «lesen», dürfte ein verwirrendes Durcheinander von Beschreibungen früherer Welten finden.
Die DNA der Säugetiere beschreibt sicher sowohl sehr frühe als auch spätere Umweltbedingungen. Die Gene eines Kamels befanden sich irgendwann einmal im Meer, aber seit gut 300 Millionen Jahren haben sie es nicht mehr gesehen. Den größten Teil der jüngeren Erdgeschichte haben sie in Wüsten überdauert und ihre Körper darauf programmiert, dem Staub standzuhalten und Wasser zu speichern. Wie Sandrosen, die der Wind zu großartigen Formen schleift, und wie Felsen, die von Meereswogen abgetragen werden, so wurde auch die DNA der Kamele durch das Überleben in den Wüsten früherer und den Meeren noch früherer Zeiten so geformt, dass sie die heutigen Kamele entstehen lässt. Die Kamel-DNA erzählt von der sich wandelnden Welt der Kamelvorfahren – könnten wir doch nur ihre Sprache verstehen! Wäre sie uns bekannt, würden wir aus dem «Text» der Thunfisch- und Seestern-DNA «Meer» herauslesen. Die DNA der Maulwürfe und Regenwürmer würde «unter der Erde» besagen und natürlich würde jede DNA außerdem über vieles andere berichten. Hai- und Geparden-DNA würden «Jagd» verkünden, aber auch verschiedene Botschaften über Meer und Land. Affen- und Geparden-DNA würden «Milch» sagen. Affen- und Faultier-DNA enthielten die Nachricht «Bäume». Die DNA der Wale und Dugongs würde wahrscheinlich von den Meeren der Urzeit erzählen, aber auch von altem Land und jüngeren Ozeanen – wieder ein Beispiel für mehrfach überschriebene Seiten im Tagebuch.
Aspekte der Umwelt, die besonders wichtig sind oder häufig vorkommen, werden in der genetischen Beschreibung im Vergleich zu seltenen oder banalen Merkmalen stark «gewichtet». Umweltverhältnisse, die in ferner Vergangenheit liegen, haben eine andere Gewichtung als jüngere – sie ist vermutlich geringer, aber um wie viel, lässt sich nicht ohne weiteres erkennen. Umweltverhältnisse, die in der Lebensgeschichte der Spezies lange angedauert haben, fallen in der genetischen Beschreibung stärker ins Gewicht als Ereignisse, die zu ihrer Zeit vielleicht gewaltig erschienen, in der Erdgeschichte aber nur Eintagsfliegen waren.
Es gab die poetische Vermutung, die entfernte meeresbewohnende Ahnenschaft aller Landlebewesen spiegele sich in der biochemischen Zusammensetzung des Blutes wider, die angeblich der eines urzeitlichen Meeres ähnelt. Die Flüssigkeit in den Eiern von Reptilien wurde als «Privatteich» bezeichnet, als Überbleibsel der Teiche früherer Zeiten, in denen die Larven ihrer entfernten, amphibienartigen Vorfahren heranwuchsen. Soweit Tiere und ihre Gene einen solchen Stempel ihrer Frühgeschichte tragen, hat das stichhaltige Gründe, die in ihrer Funktion liegen. Geschichte um der Geschichte willen gibt es nicht. Damit meine ich Folgendes: Als unsere entfernten Vorfahren noch im Meer lebten, waren viele biochemische Abläufe in ihrem Stoffwechsel aus Gründen der Funktion auf das Meer abgestimmt – und unsere Gene wurden zu einer Beschreibung der Meereschemie. Aber (das ist ein Teil unserer Gedanken über den «egoistischen Kooperator») biochemische Vorgänge werden nicht nur auf die Außenwelt abgestimmt, sondern auch aufeinander. Zu der Welt, auf die sie sich einstellten, gehörten auch die Moleküle im Körper und die biochemischen Abläufe, an denen sie teilnahmen. Später, als die entfernten Nachkommen der Meeresbewohner an Land gingen und sich allmählich immer stärker auf eine trockene Umgebung an der Luft einstellten, blieb die alte gegenseitige Anpassung der biochemischen Vorgänge bestehen. Wie könnte es anders sein – schließlich ist die Zahl der unterschiedlichen
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