Der entzauberte Regenbogen
einzige Zelle im Gehirn, die dann, und nur dann, einen Impuls abgibt, wenn das Gesicht der Großmutter auf der Netzhaut erscheint, und schon das ist schwierig einzurichten. Einfacher wäre es, wenn wir davon ausgehen könnten, dass das Gesicht immer genau auf einem bestimmten Teil der Netzhaut abgebildet wird. Dann könnte es eine Art Schlüsselloch-Anordnung geben, bei der ein großmutterförmiger Bereich von Netzhautzellen mit einer Gehirnzelle verknüpft ist, die das Signal «Großmutter» abgibt. Andere Zellen müssten demnach zum «Anti-Schlüsselloch» gehören und so verdrahtet sein, dass sie hemmend wirken, denn sonst würde die Zelle im Zentralnervensystem auf ein weißes Blatt Papier ebenso stark reagieren wie auf das Gesicht der Großmutter, das darin – ebenso wie alle anderen vorstellbaren Bilder – zwangsläufig «enthalten» wäre. Für die Reaktion auf ein festgelegtes Bild ist es entscheidend, dass die Reaktionen auf alles andere vermieden werden.
Das Schlüsselloch-Verfahren können wir schon aus rein zahlenmäßigen Gründen ausschließen. Einmal angenommen, Lettvin müsste nichts anderes erkennen als seine Großmutter: Was täte er, wenn ihr Bild auf andere Bereiche der Netzhaut fiele? Wie würde er damit umgehen, dass sich Form und Größe des Bildes ändern, wenn sie näher kommt oder sich entfernt, sich zur Seite wendet oder nach hinten beugt, lächelt oder die Stirn runzelt? Nimmt man alle möglichen Kombinationen von Schlüssellöchern und Anti-Schlüssellöchern zusammen, gehen die Zahlen ins Astronomische. Wenn man sich dann noch klarmacht, dass Lettvin nicht nur seine Großmutter erkennen kann, sondern auch viele hundert andere Gesichter, die anderen Teile seiner Großmutter und sonstiger Menschen, alle Buchstaben des Alphabets, all die vielen tausend Gegenstände, deren Namen ein normaler Mensch sofort nennen kann, und das in allen nur denkbaren Orientierungen und Abbildungsgrößen, wächst die Zahl der Auslöserzellen ins Unermessliche. Der amerikanische Psychologe Fred Attneave, der die gleiche allgemeine Idee geäußert hatte wie Barlow, machte den springenden Punkt mit folgender Berechnung deutlich: Wenn jedes Bild, das wir in allen seinen Darstellungsformen unterscheiden können, nur von einer einzigen Zelle nach dem Schlüssellochprinzip aufgenommen würde, müsste man die Größe des Gehirns in Kubiklichtjahren messen.
Wie schaffen wir es dann mit einem Gehirn, dessen Volumen nur bei einigen hundert Kubikzentimetern liegt? Auf die Antwort kamen Barlow und Attneave unabhängig voneinander in den fünfziger Jahren. Sie äußerten die Vermutung, das Nervensystem könne die gewaltige Redundanz aller Sinnesinformationen ausnutzen. «Redundanz» ist ein Fachausdruck aus der Informationstheorie; er wurde ursprünglich von Ingenieuren entwickelt, die sich mit der wirtschaftlichen Nutzung der Kapazität von Telefonleitungen beschäftigten. Information ist in diesem fachsprachlichen Sinn der Überraschungswert, gemessen als das Umgekehrte der erwarteten Wahrscheinlichkeit. Redundanz ist das Gegenteil von Information, ein Maß für mangelnde Überraschung, für Altgewohntes. Redundante Nachrichten oder Nachrichtenteile enthalten keine Information, weil der Empfänger in einem gewissen Sinn schon weiß, was auf ihn zukommt. Zeitungsschlagzeilen verkünden nicht: «Heute Morgen ist die Sonne aufgegangen». Das hätte keinen Informations-Nachrichtenwert. Aus einem Morgen, an dem die Sonne nicht aufgeht, könnten Schlagzeilenverfasser – falls sie dann noch leben – jedoch eine Menge machen. Der Informationsgehalt, gemessen als Überraschungswert der Nachricht, wäre hoch. Gesprochene und geschriebene Sprache ist zu einem großen Teil redundant – nur deshalb ist der verkürzte Telegrammstil möglich: Redundanz weg, Information beibehalten.
Alles, was wir von der Welt außerhalb unseres Schädels wissen, erreicht uns über Nervenzellen, deren Impulse knattern wie ein Maschinengewehr. An der Nervenzelle laufen Salven von elektrischen Signalen entlang, Impulse mit feststehender (oder zumindest keine Bedeutung tragender) Spannung; Sinn entsteht durch die veränderliche Rate der eingehenden Signale. Fragen wir nun einmal nach den Prinzipien der Verschlüsselung. Wie lässt sich eine Information über die Außenwelt, beispielsweise der Klang einer Oboe oder die Temperatur des Badewassers, in einen Code aus Impulsen übersetzen? Zunächst könnte man an einen einfachen Geschwindigkeitscode
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