Der entzauberte Regenbogen
Moleküle in Zellen und Blut weit größer als die der Molekültypen in der Außenwelt. Ihr unmittelbarer Inhalt, der in die parallele Sprache der Proteinmoleküle übersetzt wird, ist eine Anweisung für die Embryonalentwicklung des Individuums. Dagegen wird der Genvorrat der gesamten Spezies so gestaltet, dass er zur Umwelt seiner Vorfahren passt – deshalb habe ich die Spezies als Computer zur Berechnung von Durchschnittswerten bezeichnet. In diesem indirekten Sinn ist unsere DNA ein verschlüsselter Bericht über die Umweltbedingungen, in denen unsere Vorfahren überlebt haben. Ist das nicht ein fesselnder Gedanke? Wir sind digitale Archive des Pliozäns in Afrika, ja sogar der Meere des Devon, wandelnde Fundgruben für die Weisheit uralter Zeiten. Man könnte ein Leben lang darin lesen und würde sterben, ohne aus dem Staunen herausgekommen zu sein.
11 Die Welt wird neu verwoben
Seit dem Beginn meiner Ausbildung besaß ich stets Dinge, die mir mit ihren Farben und Klängen beschrieben wurden, und zwar von jemandem mit aufmerksamen Sinnen und einem feinen Gespür für das Wichtige. Deshalb habe ich die Gewohnheit, mir Dinge als farbig und klangvoll vorzustellen. Einen Teil erklärt die Gewohnheit, einen anderen das Seelengefühl. Das Gehirn mit seiner Konstruktion aus fünf Sinnen nimmt sich sein Recht und erklärt den Rest. Insgesamt verlangt die Einheitlichkeit der Welt, dass die Farbe nicht fehlen darf, ob ich Kenntnis von ihr habe oder nicht. Statt ausgeschlossen zu werden, habe ich daran teil, indem ich darüber spreche, glücklich im Glück derer, die mir nahe sind und die zarten Farben des Sonnenunterganges oder des Regenbogens bewundern.
Helen Keller, The Story of my Life (1902)
So wie man aus dem Genvorrat einer Spezies eine Reihe von Modellen früherer Welten herausschälen kann, so beherbergt das Gehirn eines Individuums parallel dazu eine Reihe von Modellen der persönlichen Umwelt des Tieres. Beide sind gleichbedeutend mit einer Beschreibung der Vergangenheit, und beide dienen dazu, das Überleben in der Zukunft zu unterstützen. Der Unterschied betrifft die zeitlichen Maßstäbe und das Ausmaß, in dem es sich um eine Privatangelegenheit handelt. Die genetische Beschreibung ist eine kollektive Erinnerung, die der gesamten Spezies gehört und unendlich weit in die Vergangenheit zurückreicht. Das Gedächtnis im Gehirn ist etwas Privates und enthält die Erlebnisse des Individuums seit seiner Geburt.
Unser subjektives Wissen über einen vertrauten Ort fühlt sich für uns tatsächlich wie ein Abbild dieses Ortes an. Es ist gewiss kein exaktes, maßstabsgetreues Modell und sicher weniger genau, als wir meinen, aber für den gewünschten Zweck genügt es. Einen Weg, sich mit dem Thema zu befassen, schlug vor einigen Jahren der Physiologe Horace Barlow aus Cambridge vor, der übrigens ein direkter Nachfahre von Charles Darwin ist. Barlow interessiert sich besonders für das Sehvermögen und geht mit seiner Argumentation von der Beobachtung aus, dass das Erkennen eines Gegenstandes viel schwieriger ist, als wir, die wir es so mühelos schaffen, uns in der Regel klarmachen.
Wir leben in einer segensreichen Unwissenheit darüber, welch eine kluge Leistung wir in jeder Sekunde unseres wachen Lebens vollbringen, wenn wir Gegenstände sehen und erkennen. Die Aufgabe der Sinnesorgane, die physikalischen Reize zu entwirren, mit denen sie ständig bombardiert werden, lässt sich ohne weiteres mit der Leistung des Gehirns vergleichen, das die Reize seinerseits zu einem inneren Modell von der Welt verwebt, mit dem es dann arbeiten kann. Die gleichen Überlegungen gelten auch für die anderen Sinnessysteme, aber ich werde vorwiegend beim Sehvermögen bleiben, weil es uns von allen Sinnen am meisten bedeutet.
Man braucht sich nur einmal vorzustellen, welche Probleme unser Gehirn lösen muss, wenn es beispielsweise den Buchstaben A erkennt. Erst recht steht es vor Schwierigkeiten, wenn es das Gesicht eines Menschen erkennen soll. Das hypothetische Gesicht, von dem die Fachleute immer reden, gehört nach einer alten Insidertradition angeblich der Großmutter des angesehenen Neurobiologen J. Lettvin, aber man kann auch jedes andere Gesicht, das man kennt, oder sogar jeden erkennbaren Gegenstand an seine Stelle setzen. Es geht hier nicht um das subjektive Bewusstsein, um die schwierige philosophische Frage, was es bedeutet, wenn man sich des Gesichtes der Großmutter bewusst ist. Für den Anfang reicht eine
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