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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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denken: Je heißer das Bad, desto schneller feuert das Maschinengewehr. Oder mit anderen Worten: Das Gehirn besitzt ein Thermometer, das auf die Impulshäufigkeit geeicht ist. Aber das wäre kein guter Code, denn er geht unwirtschaftlich mit den Impulsen um. Durch Ausnutzung der Redundanz kann man einen Code entwickeln, der die gleiche Information mit einem geringen Impulsaufwand übermittelt. Die Temperatur bleibt in der Umwelt meist über längere Zeit hinweg gleich. Das Signal «Es ist heiß, es ist heiß, es ist immer noch heiß …» mit einem ständigen schnellen Maschinengewehrfeuer aus Impulsen zu vermitteln, ist verschwenderisch. Besser ist es, wenn man sagt: «Es ist plötzlich heiß geworden» (und dann kann man davon ausgehen, dass es so bleibt, solange keine neue Information gegeben wird).
    Erfreulicherweise tun Nervenzellen meist wirklich genau das, und zwar nicht nur, wenn sie Temperaturen angeben, sondern auch mit ihren Signalen über fast alles andere in der Umwelt. Die meisten Nervenzellen sind darauf eingestellt, Veränderungen der Umgebung mitzuteilen. Spielt eine Trompete einen lang anhaltenden Ton, reagiert eine typische Nervenzelle, die das Gehirn darüber in Kenntnis setzt, mit folgendem Impulsmuster: vor dem Einsatz der Trompete geringe Impulsrate; unmittelbar nach dem Einsatz der Trompete hohe Impulsrate; während die Trompete ihren Ton hält, sinkt die Impulsrate auf ein langsames Murmeln ab; und sobald der Ton zu Ende ist, wieder eine hohe Impulsrate, die dann auf das Murmeln des Ruhezustandes abfällt. Möglicherweise gibt es auch eine Gruppe von Nervenzellen, die nur beim Einsetzen eines Tones ihre Impulse abgeben, und eine andere Gruppe reagiert, wenn der Ton zu Ende ist. Ähnlich wird die Redundanz – ein gleich bleibender Zustand in der Umwelt – auch von Zellen ausgenutzt, die das Gehirn über Veränderungen von Lichtverhältnissen, Temperatur oder Druck in Kenntnis setzen. Eigenschaften der Umwelt werden grundsätzlich als Veränderung signalisiert, und das bedeutet eine wichtige Einsparung.
    Dennoch hört es sich für uns nicht so an, als ob die Trompete leiser wird. Wir haben den Eindruck, dass der Ton die gleiche Lautstärke beibehält und dann plötzlich endet. Ja, natürlich. Mit nichts anderem rechnet man bei einem so klugen Codierungssystem. Es verwirft keine Informationen, sondern nur die Redundanz. Nur Veränderungen werden dem Gehirn mitgeteilt, und alles andere kann es daraus selbst rekonstruieren. Barlow formuliert es nicht so, aber man könnte sagen: Das Gehirn baut anhand der Nachrichten, die es über die Nerven von den Ohren erhält, einen virtuellen Ton auf. Dieser rekonstruierte, virtuelle Ton ist vollständig; ihm fehlt nichts, obwohl die Nachrichten selbst aus Gründen der Wirtschaftlichkeit bis auf die Information über Veränderungen abgespeckt wurden. Das System funktioniert, weil sich der Zustand der Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt meist nicht stark von dem in der vorangegangenen Sekunde unterscheidet. Nur wenn die Umwelt häufig unberechenbare, zufällige Veränderungen erleben würde, wäre es für die Sinnesorgane wirtschaftlicher, ständig den Zustand der Umgebung zu übermitteln. So aber sind sie darauf eingestellt, wirtschaftlich zu arbeiten und nur die Unstetigkeiten weiterzuleiten; das Gehirn unterstellt zu Recht, dass sich die Umwelt nicht unberechenbar und zufällig verändert, und konstruiert anhand der aufgenommenen Informationen eine innere, virtuelle Realität, in der die Stetigkeit wiederhergestellt wird.
    Die gleiche Redundanz besitzt die Umwelt auch in räumlicher Hinsicht, und auch hier wendet das Nervensystem einen entsprechenden Kunstgriff an. Die Sinnesorgane teilen dem Gehirn mit, wo Grenzlinien liegen, und die langweiligen Räume dazwischen füllt das Gehirn selbst auf. Angenommen, wir sehen ein schwarzes Rechteck auf weißem Hintergrund. Das ganze Bild fällt auf die Netzhaut – diese kann man sich wie einen Bildschirm vorstellen, der mit einem dichten Teppich aus winzigen, lichtempfindlichen Zellen besetzt ist: den Stäbchen und Zapfen. Theoretisch könnte jede dieser Zellen dem Gehirn genau mitteilen, wie viel Licht sie gerade empfängt. Aber das Bild, das wir betrachten, ist äußerst redundant. Zellen, die Schwarz wahrnehmen, sind in ihrer überwältigend großen Mehrzahl von anderen Zellen umgeben, die ebenfalls Schwarz wahrnehmen. Und fast alle Zellen, die Weiß registrieren, befinden sich in einem Umfeld aus ebenfalls

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