Der entzauberte Regenbogen
Grundeinstellungen ermitteln würde, sollte er also in der Lage sein, daraus die statistischen Eigenschaften der Welt zu rekonstruieren, in der das Tier gelebt hat, und abzulesen, was in dieser Welt üblich und was selten war.
Genau wie bei den Genen wäre es eine indirekte Schlussfolgerung. Wir könnten keine direkte Beschreibung der Umwelt des Tieres ablesen, sondern wir müssten Schlüsse über diese Welt ziehen, indem wir uns das Abkürzungsverzeichnis ansehen, mit dessen Hilfe das Gehirn die Beschreibung erstellt hat. Beamte lieben Abkürzungen wie BFH (Bundesfinanzhof) oder ASchO (Allgemeine Schulordnung); ein passionierter Bürokrat braucht sicher ein Verzeichnis solcher Abkürzungen – ein Codebuch. Findet man ein solches Codebuch auf der Straße, kann man daran ablesen, aus welchem Ministerium es stammt – diejenigen Formulierungen, die man mit Abkürzungen versehen hat, werden dort vermutlich am häufigsten gebraucht. Ein abgefangenes Codebuch ist keine eigene Nachricht über die Welt, sondern eine statistische Zusammenfassung über die Eigenschaften der Welt, zu deren sparsamer Beschreibung der Code geschaffen wurde.
Man kann sich das Gehirn so vorstellen, als sei es mit einem Vorratsschrank voller grundlegender Bilder ausgestattet, die dazu dienen, Modelle von wichtigen oder häufigen Aspekten der Umwelt aufzubauen. Ich bin zwar Barlow gefolgt und habe das Lernen als Mittel zum Auffüllen des Schrankes in den Vordergrund gestellt, aber es gibt keinen Grund, warum nicht auch die natürliche Selektion mit ihrer Wirkung auf die Gene dazu beitragen sollte. Wenn es so ist, sollten wir die Logik des vorangegangenen Kapitels weiterverfolgen und annehmen, dass der Vorratsschrank im Gehirn auch Bilder aus der Vergangenheit der Spezies enthält. Man könnte von einem kollektiven Unbewussten sprechen, wenn der Begriff nicht durch andere Assoziationen getrübt wäre.
Aber die unterschiedlichen Voreinstellungen der verschiedenen Bilder in dem Schrank zeigen nicht nur, was in der Umwelt statistisch unerwartet ist. Die natürliche Selektion sorgt auch dafür, dass das Repertoire der virtuellen Darstellungen eine reiche Auswahl von Bildern enthält, die für das Leben der jeweiligen Tierart von besonderer Bedeutung sind oder in der Welt seiner Vorfahren wichtig waren, selbst dann, wenn sie nicht besonders häufig vorkommen. Manche komplizierten Muster, beispielsweise die Form eines Weibchens der eigenen Art, muss ein Tier vielleicht nur einmal in seinem Leben erkennen, aber dann ist es von entscheidender Bedeutung, dass es alles richtig macht, und zwar unverzüglich. Für Menschen sind Gesichter besonders wichtig und sie kommen in unserer Umwelt auch häufig vor. Das Gleiche gilt für gesellig lebende Affen. Im Affengehirn hat man Zellen eines besonderen Typs gefunden, die ihre Impulse nur dann mit Maximalgeschwindigkeit abgeben, wenn man ihnen ein vollständiges Gesicht präsentiert. Wie wir wissen, leiden manche Menschen mit bestimmten, genau umgrenzten Gehirnschäden an einer sehr seltsamen, aufschlussreichen Form der selektiven Blindheit: Sie können keine Gesichter erkennen. Alles andere sehen sie offensichtlich normal und auch ein Gesicht nehmen sie als Form mit bestimmten Merkmalen wahr. Sie können Nase, Augen und Mund beschreiben, aber sie erkennen nicht einmal das Gesicht des Menschen, den sie von allen am meisten lieben.
Normale Menschen können Gesichter nicht nur erkennen. Wir haben offenbar einen fast unanständigen Hang, sie wahrzunehmen, ganz gleich, ob sie vorhanden sind oder nicht. Wir sehen Gesichter in feuchten Flecken an der Zimmerdecke, in den Umrissen eines Berges, in Wolken oder Marsgestein. Generationen von Mondsüchtigen ließen sich verleiten, im denkbar ungeeignetsten aller Rohmaterialien, dem Muster der Mondkrater, ein Gesicht zu suchen. Der Londoner Daily Express widmete am 15. Januar 1998 den größten Teil einer Seite sowie eine Balkenüberschrift der Meldung, eine irische Putzfrau habe in ihrem Staubtuch das Gesicht Jesu gesehen: «Jetzt rechnet man mit einem Strom von Pilgern zu ihrer Doppelhaushälfte … Der Gemeindepfarrer der Frau sagte: ‹So etwas habe ich in den 34 Jahren meiner Amtszeit noch nicht gesehen.›» Das begleitende Foto zeigte ein Stück Stoff mit einem Muster aus schmutziger Möbelpolitur, das entfernt einem Gesicht ähnelte: Neben einer Stelle, die eine Nase sein könnte, sieht man die entfernte Andeutung eines Auges, und auf der anderen Seite erkennt man
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