Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
Vom Netzwerk:
«Fliegendetektoren», die Lettvin (der mit der Großmutter) und seine Kollegen bei Fröschen entdeckten. Eine Fliegendetektor-Zelle ist offensichtlich blind für alles außer der Bewegung kleiner Gegenstände vor dem Hintergrund. Sobald sich ein Insekt in dem Gesichtsfeld bewegt, das von einem Fliegendetektor überwacht wird, gibt die Zelle ein starkes Signal ab, und wahrscheinlich schießt dann die Zunge des Frosches heraus, um die Beute zu fangen. Für ein ausreichend hoch entwickeltes Nervensystem ist aber sogar die Bewegung des Insektes redundant, solange sie auf einer geraden Linie erfolgt. Wenn man weiß, dass sich ein Insekt stetig nach Norden bewegt, kann man davon ausgehen, dass es seine Richtung beibehält, solange nichts anderes mitgeteilt wird. Die gleiche Logik lässt sich noch einen Schritt weiter treiben: Man würde damit rechnen, dass man im Gehirn Bewegungsdetektor-Zellen höherer Ordnung findet, die gezielt auf Veränderungen von Bewegungen ansprechen, beispielsweise auf einen Wechsel von Richtung oder Geschwindigkeit. Lettvin und seine Kollegen fanden, wiederum beim Frosch, eine Zelle, die offenbar diese Funktion erfüllt. In ihrem Aufsatz in Sensory Communication (1961) beschreiben sie folgendes Experiment:
     
    Wir gehen von einer leeren grauen Halbkugel als Gesichtsfeld aus. Auf das Ein- und Ausschalten der Beleuchtung reagiert die Zelle in der Regel nicht. Sie bleibt stumm. Wir bringen einen kleinen dunklen Gegenstand mit einem Durchmesser von ein bis zwei Grad ins Spiel, und an einer bestimmten Stelle auf seinem Weg, die fast überall im Gesichtsfeld liegen kann, «bemerkt» ihn die Zelle plötzlich. Danach verfolgt sie das Objekt, wohin es auch wandert. Bei jeder seiner Bewegungen, und noch bei der leisesten Zuckung, produziert sie eine Welle von Impulsen, und diese flauen dann zu einem Murmeln ab, das so lange anhält, wie das Objekt zu sehen ist. Bewegt das Objekt sich weiter, zeigen die Impulswellen Unstetigkeiten der Bewegung an, beispielsweise wenn es um Ecken biegt, umkehrt und so weiter; die Wellen ereignen sich vor einem ständigen Hintergrundmurmeln, das uns mitteilt, dass der Gegenstand für die Zellen noch sichtbar ist …
     
    Zusammenfassend kann man sagen: Offensichtlich ist das Nervensystem auf den verschiedenen Ebenen seiner Hierarchie darauf eingestellt, auf Unerwartetes stark und auf Erwartetes schwach oder gar nicht zu reagieren. Auf den höheren Ebenen wird die Definition des Erwarteten immer komplizierter. Auf der untersten Ebene ist jeder Lichtfleck etwas Neues. Eine Stufe höher sind nur Grenzlinien eine «Neuigkeit». Und da so viele Grenzlinien gerade verlaufen, werden auf einer noch höheren Ebene nur ihre Enden als etwas Neues betrachtet. Noch höher ist nur Bewegung etwas Neues, dann nur eine Veränderung ihrer Geschwindigkeit oder Richtung. Mit Barlows Begriffen, die aus der Codetheorie stammen, kann man sagen: Für Nachrichten, die häufig eintreffen und erwartet werden, bedient sich das Nervensystem kurzer, sparsamer Worte; seltene, unerwartete Nachrichten dagegen werden mit langen, aufwendigen Worten wiedergegeben. Ein wenig ähnelt das Ganze der Sprache, in der die kürzesten Wörter des Wörterbuches auch diejenigen sind, die beim Sprechen am häufigsten vorkommen (eine Verallgemeinerung, die man auch als Zipf-Gesetz bezeichnet). Oder, überspitzt gesagt: Meistens braucht das Gehirn überhaupt keine Mitteilungen, weil alles normal abläuft. Nachrichten wären redundant. Vor der Redundanz schützt sich das Gehirn mit einer Hierarchie von Filtern, die jeweils darauf abgestimmt sind, bestimmte erwartete Merkmale zu beseitigen.
    Die Gesamtheit aller Nervenfilter stellt also eine Art zusammenfassende Beschreibung der Norm dar, der statistischen Eigenschaften der Welt, in der das Tier lebt. Sie ist, was das Nervensystem angeht, die Entsprechung zu unserer Erkenntnis aus dem vorherigen Kapitel, wonach die Gene einer Spezies gemeinsam eine statistische Beschreibung der Umweltverhältnisse darstellen, in denen ihre Vorfahren von der natürlichen Selektion ausgewählt wurden. Jetzt erkennen wir, dass auch die Codierungseinheiten der Sinnesorgane, über die sich das Gehirn mit der Umwelt auseinander setzt, eine statistische Beschreibung dieser Umwelt enthalten. Sie sind darauf eingestellt, das Gewohnte zu vernachlässigen und das Seltene zu betonen. Wenn unser hypothetischer Zoologe der Zukunft das Nervensystem eines Tieres untersuchen und die statistischen

Weitere Kostenlose Bücher