Der entzauberte Regenbogen
Weiß registrierenden Zellen. Die wichtige Ausnahme sind die Zellen an den Grenzlinien: Befinden sie sich auf der weißen Seite, signalisieren sie selbst Weiß wie ihre Nachbarn, die sich weiter im Inneren der weißen Fläche befinden. Aber ihre Nachbarn auf der anderen Seite liegen im schwarzen Bereich. Theoretisch kann das Gehirn die gesamte Abbildung rekonstruieren, wenn ausschließlich die Netzhautzellen an den Grenzlinien Impulse abgeben. Lässt sich das bewerkstelligen, ergibt sich eine gewaltige Einsparung an Nervenimpulsen. Auch hier wird die Redundanz beseitigt und nur die Information weitergereicht.
In der Praxis wird diese Wirtschaftlichkeit durch einen eleganten Mechanismus erreicht, den man «laterale Hemmung» nennt. In vereinfachter Form kann man sein Prinzip verstehen, wenn man sich noch einmal des Vergleiches mit einem Bildschirm aus Fotozellen bedient. Von jeder Fotozelle läuft ein langer Draht zum Zentralrechner (Gehirn), und über kurze Drähte ist sie auch mit ihren unmittelbaren Nachbarn im Bildschirm verbunden. Diese kurzen Verknüpfungen hemmen die Nachbarn, das heißt, sie setzen ihre Impulsgeschwindigkeit herab. Wie man leicht erkennt, erreichen nur die Zellen an den Grenzlinien unter solchen Umständen ihre maximale Impulsgeschwindigkeit, denn sie werden nur von einer Seite gehemmt. Diese Form der lateralen Hemmung ist auf den unteren Verarbeitungsebenen der Augen von Wirbeltieren und Wirbellosen weit verbreitet.
Noch einmal: Das Gehirn konstruiert gewissermaßen eine virtuelle Welt, die vollständiger ist als das von den Sinnesorganen übermittelte Bild. Die Information, die von den Sinnesorganen zum Gehirn fließt, bezieht sich vorwiegend auf Grenzlinien. Die dazwischenliegenden Teile kann das Gehirn anhand seines Modells rekonstruieren. Wie bei den zeitlichen Unstetigkeiten wird durch die Beseitigung der Redundanz – und ihre spätere Rekonstruktion im Gehirn – mehr Wirtschaftlichkeit erreicht. Das funktioniert aber nur, weil es in der Umwelt einheitliche Abschnitte gibt. Wären die Schattierungen und Farben zufällig verstreut, würde eine wirtschaftliche Wiederherstellung des Modells unmöglich.
Redundanz eines anderen Typs ergibt sich aus der Tatsache, dass viele Linien in der Außenwelt entweder gerade oder gleichmäßig gebogen sind, sodass sich ihr Verlauf vorhersagen (oder mathematisch rekonstruieren) lässt. Sind die Enden einer Linie bekannt, kann das Gehirn ihren mittleren Abschnitt nach einer einfachen Regel, die es bereits «kennt», ergänzen. Unter den Nervenzellen, die man im Gehirn der Säugetiere entdeckt hat, sind auch so genannte «Liniendetektoren»: Diese Neuronen geben Impulse ab, sobald eine gerade, in einer bestimmten Richtung verlaufende Linie an einer bestimmten Stelle auf der Netzhaut abgebildet wird, dem so genannten «Netzhautfeld», das zu der Gehirnzelle gehört. Jede Liniendetektorzelle hat eine «Lieblings»-Richtung. Im Katzengehirn gibt es nur zwei solche Vorzugsrichtungen – horizontal und vertikal –, die jeweils durch eine ungefähr gleiche Zahl von Nervenzellen erkannt werden; bei Affen dagegen können sie sich auch auf andere Winkel einstellen. Was bedeutet das unter dem Gesichtspunkt der Redundanz? In der Netzhaut geben alle Zellen entlang einer geraden Linie Impulse ab und diese Impulse sind zum größten Teil redundant. Das Nervensystem arbeitet wirtschaftlicher: Es nimmt die Linie mit einer einzigen Zelle wahr, die mit ihrem Winkel gekennzeichnet ist. Gerade Linien werden aus Sparsamkeitsgründen ausschließlich durch ihre Lage und ihre Richtung oder aber durch ihre Enden gekennzeichnet, nicht jedoch durch die Lichtintensität an jedem Punkt ihres Verlaufs. Das Gehirn baut daraus eine virtuelle Linie auf, deren übrige Punkte es rekonstruiert hat.
Wenn sich aber ein Teil der Szene plötzlich vom Rest löst und über den Hintergrund kriecht, ist das etwas Neues, das mitgeteilt werden muss. Man hat tatsächlich Nervenzellen entdeckt, die so lange schweigen, bis sich irgendetwas vor einem ruhigen Hintergrund bewegt. Solche Zellen sprechen nicht an, wenn sich die gesamte Szene bewegt – das würde der scheinbaren Bewegung entsprechen, die das Tier auch sieht, wenn es sich selbst bewegt. Aber die Verschiebung eines kleinen Objektes vor einem ruhigen Hintergrund enthält eine Menge Information, und bestimmte Nervenzellen sind darauf eingestellt, es wahrzunehmen. Die berühmtesten derartigen Zellen sind die so genannten
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