Der entzauberte Regenbogen
virtuelle Realität funktioniert in beide Richtungen. Der Computer zeigt nicht nur Szenen, sondern er reagiert auf den Betrachter. Der Helm ist so verdrahtet, dass er jede Bewegung des Kopfes und auch andere Körperbewegungen wahrnimmt, die in der Wirklichkeit zu einem veränderten Standpunkt führen würden. Der Computer wird ständig über alle derartigen Bewegungen auf dem Laufenden gehalten und – das ist der verblüffende Teil – verändert aufgrund seiner Programmierung die Szene vor den Augen so, wie sie sich auch nach einer wirklichen Bewegung wandeln würde. Beispielsweise gleiten die Pfeiler des Parthenon bei einer Drehung des Kopfes zur Seite, und man blickt nun auf eine Statue, die sich vorher «hinter» dem Betrachter befand.
Bei einem weiterentwickelten System steckt man unter Umständen in einem Ganzkörperanzug, der mit Zugsensoren ausgestattet ist und die Stellung aller Gliedmaßen registriert. Dann weiß der Computer, wann man einen Schritt macht, sich setzt, aufsteht oder die Arme schwenkt. Jetzt kann man von einem Ende des Parthenon zum anderen gehen, und die Säulen ziehen vorüber, weil der Computer das Bild entsprechend den Schritten verändert. Dabei muss man Vorsicht walten lassen, denn immer gilt es daran zu denken: Man befindet sich nicht wirklich im Parthenon, sondern in einem engen Computerraum. Die heutigen Systeme für virtuelle Realität halten den Benutzer tatsächlich mit einer komplizierten Nabelschnur aus Kabeln am Computer fest, aber für die Zukunft kann man sich auch eine drahtlose Funkverbindung oder Infrarot-Datenübertragung vorstellen. Dann läuft man in einer leeren, wirklichen Welt ungehindert herum und erkundet die virtuelle Phantasiewelt, die zuvor programmiert wurde. Da der Computer weiß, wo sich der Ganzkörperanzug befindet, kann er dem Benutzer auch ohne weiteres seine eigene, menschliche Form zeigen, den Avatar : Er kann an seinen «Beinen» hinunterblicken und die können ganz anders aussehen als seine wirklichen Beine. Man kann zusehen, wie sich die Hände des Avatar in Nachahmung der echten Hände bewegen. Wenn man beobachtet, wie diese Hände ein virtuelles Objekt – beispielsweise eine griechische Vase – greifen, wird sich die Vase in die Luft erheben, während man sie «hebt».
Wenn nun jemand anderes, der sich durchaus in einem anderen Land befinden kann, einen zweiten, mit dem gleichen Computer verbundenen Ganzkörperanzug anlegt, kann man im Prinzip dessen Avatar sehen und ihm sogar die Hand schütteln – beim heutigen Stand der Technik würde man allerdings eher durch den anderen hindurchgreifen wie durch einen Geist. An der Illusion von Oberflächenbeschaffenheit und festem Widerstand arbeiten Techniker und Programmierer noch. Als ich einmal die führende englische Firma für virtuelle Realität besichtigte, erklärte man mir, viele Menschen schrieben Briefe, weil sie sich einen virtuellen Sexualpartner wünschten. Vielleicht werden die Liebespaare der Zukunft einander selbst dann, wenn der Atlantik zwischen ihnen liegt, über das Internet streicheln; dabei dürften ein Ganzkörperanzug und Handschuhe, die mit Zugsensoren und Druckkissen verdrahtet sind, allerdings höchst lästig sein.
Aber holen wir die virtuelle Realität einmal aus dem Reich der Träumereien in die Domäne der praktischen Nutzanwendung. Ärzte bedienen sich heute des Endoskops, eines hoch entwickelten biegsamen Gerätes, das beispielsweise durch den Darmausgang in den Körper eingeführt wird und eine Diagnose und sogar chirurgische Eingriffe ermöglicht. Mit Vorrichtungen, die Zugseilen ähneln, steuert der Arzt den langen Schlauch durch die Biegungen des Darms. Am vorderen Ende befinden sich eine winzige Fernsehkamera und eine Licht leitende Faser, die den Weg des Endoskops beleuchtet. Außerdem kann das Vorderende mit verschiedenen Instrumenten ausgestattet werden, beispielsweise mit einem kleinen Skalpell oder einer Pinzette, die der Arzt ferngesteuert bedient.
Bei der herkömmlichen Endoskopie sieht der Arzt auf einem normalen Bildschirm, was er gerade tut, und die Fernsteuerung bedient er mit den Fingern. Aber wie bereits mehrere Fachleute erkannt haben (nicht zuletzt Jaron Lanier, der den Begriff «virtuelle Realität» überhaupt erst prägte), kann man dem Chirurgen im Prinzip auch die Illusion vermitteln, er sei auf eine winzige Größe geschrumpft und befinde sich tatsächlich im Körper des Patienten. Diese Idee befindet sich noch im Forschungsstadium; deshalb
Weitere Kostenlose Bücher