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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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um einen Akkord aus Stimmgabeltönen handelt, aber dann geschieht etwas Seltsames: Die Töne vermischen sich, die «Stimmgabeln» verschwinden, und man hört nur noch – in Keats’ Worten – die silbernen, schmetternden Trompeten, die den Ton der Grundfrequenz spielen. Um den Klang einer Klarinette zu erzeugen, braucht man eine andere Kombination von Strichcodes, und auch diese erkennt man vorübergehend als getrennte «Stimmgabeln», bevor das Gehirn sich auf die Illusion des «holzigen» Klarinettentons einstimmt. Die Violine hat wieder einen anderen Strichcode und so weiter.
    Zeichnet man die Druckwellen auf, während eine Violine einen einzelnen Ton spielt, erhält man eine komplizierte, gezackte Linie; die Wellen wiederholen sich zwar in der Frequenz des Grundtons, aber überlagert sind kleinere Abweichungen mit höherer Frequenz: Die verschiedenen Sinuskurven, die den Violinklang bilden, haben sich zu der kompliziert gewellten Linie summiert. Mit einem entsprechend programmierten Computer kann man jedes komplizierte, sich wiederholende Wellenmuster in die reinen Wellen zerlegen, aus denen es aufgebaut ist, jene einzelnen Sinuskurven, die man zusammenfügen müsste, damit das komplizierte Muster entsteht. Wer ein Instrument hört, nimmt vermutlich unbewusst eine ähnliche Berechnung vor: Zunächst entwirrt das Ohr die beteiligten Sinuskurven, dann fügt das Gehirn sie wieder zusammen und verleiht ihnen das zugehörige Etikett: «Trompete», «Oboe» oder was es sonst sein mag.
    Aber unsere unbewusste Fähigkeit, zu entwirren und zu verweben, ist damit noch nicht erschöpft. Denken wir nur einmal daran, was sich abspielt, wenn wir einem ganzen Orchester zuhören. Stellen wir uns vor, überlagert von hundert Instrumenten würde unser Sitznachbar im Konzert uns gelehrte Musikkritik ins Ohr flüstern, während andere Zuhörer husten und leider hinter uns auch noch jemand mit seinem Schokoladenpapier raschelt. Alle diese Geräusche regen unser Trommelfell gleichzeitig zum Schwingen an und summieren sich zu einer einzigen, kompliziert zerklüfteten Welle von Druckveränderungen. Dass es sich nur um eine Welle handelt, wissen wir, weil wir das ganze Orchester und alle Nebengeräusche in eine einzige gewellte Rille einer Schallplatte schneiden oder als eine einzige gewellte Spur auf einem Magnetband aufzeichnen können. Das ganze Gewirr von Schwingungen summiert sich auf dem Diagramm von Luftdruck und Zeit zu einer einzigen wackeligen Linie, die von unserem Trommelfell aufgenommen wird. Und Wunder über Wunder: Dem Gehirn gelingt es, Rascheln von Flüstern zu trennen, Husten von Türknallen, das eine Instrument des Orchesters vom anderen. Es ist eine fast unglaubliche Leistung des Entwirrens und Zusammenfügens, von Analyse und Synthese, und doch vollzieht sie jeder von uns mühelos und ohne nachzudenken. Noch beeindruckender ist die Leistung der Fledermäuse, die anhand eines Stakkatos aus widerhallenden Schallwellen in ihrem Gehirn ein genaues, dynamisches räumliches Bild ihrer Umgebung aufbauen, einschließlich der Insekten, die sie im Flug fangen, und dabei können sie sogar ihre eigenen Echos von denen anderer Fledermäuse unterscheiden.
    Das mathematische Verfahren, mit dem man Schlangenlinien in Sinuskurven zerlegt, die man dann wieder zu den ursprünglichen geschlängelten Kurven zusammenfügen kann, nennt man Fourier-Analyse – die Bezeichnung erinnert an den französischen Mathematiker Joseph Fourier, der im 19. Jahrhundert lebte. Es lässt sich nicht nur auf Schallwellen anwenden (Fourier selbst entwickelte die Methode zu ganz anderen Zwecken), sondern auf jeden rhythmisch schwankenden Vorgang; um schnelle Schwingungen wie Schall oder ultraschnelle Wellen wie Licht muss es sich dabei nicht handeln. Man kann sich die Fourier-Analyse als bequemes mathematisches Verfahren zum Entwirren aller «Regenbögen» vorstellen, bei denen die Schwingungen im jeweiligen Spektrum im Vergleich zu denen des Lichtes langsam sind.
    Nehmen wir einmal eine wirklich langsame Schwingung. Auf einer Straße im südafrikanischen Krüger-Nationalpark sah ich kürzlich eine gewellte, nasse Linie, die dem Verlauf der Straße folgte und sich anscheinend nach irgendeinem komplizierten Muster in ihrer Form wiederholte. Nach Auskunft meines Gastgebers, eines erfahrenen Fremdenführers, handelte es sich dabei um den Urin eines männlichen Elefanten in der Brunstzeit. Wenn ein Elefantenbulle in diesem seltsamen, aggressiven Zustand ist,

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