Der entzauberte Regenbogen
richtig interessant.
Eine Stimmgabel oder eine Glasharmonika (ein Instrument, das Mozart sehr liebte; es besteht aus dünnen Glasschalen, die durch die Menge des in ihnen enthaltenen Wassers gestimmt werden, und die Töne erzeugt man, indem man mit dem feuchten Finger über den Rand streicht) gibt einen kristallklaren, reinen Klang ab. Die Physiker sprechen in einem solchen Fall von Sinuswellen. Sie sind die einfachsten, gewissermaßen theoretisch-idealen Wellen. Die glatten Kurven, die an einem Seil entlangwandern, wenn man ein Ende auf- und abbewegt, sind mehr oder weniger Sinuswellen, die allerdings natürlich eine viel niedrigere Frequenz haben als Schallwellen. Die meisten Klänge sind keine einfachen Sinuswellen, sondern mehr oder weniger zerklüftete, komplizierte Schwingungen – ich werde gleich darauf zurückkommen. Vorerst wollen wir uns eine Stimmgabel oder Glasharmonika vorstellen, die ihre gleichmäßig geformten Druckwellen abgibt, und diese Wellen wandern von der Quelle aus in konzentrischen, größer werdenden Kugeln nach außen. Ein Barometerohr, das man an einer Stelle anbringt, nimmt eine geringfügige Druckzunahme wahr, auf die eine gleichmäßige Abnahme folgt; es ist ein rhythmisches Hin und Her, eine Kurve ohne Zacken und Unregelmäßigkeiten. Bei jeder Verdoppelung der Frequenz (oder Halbierung der Wellenlänge, das ist das Gleiche) hören wir einen Sprung von einer Oktave. Sehr niedrige Frequenzen, beispielsweise die tiefsten Töne einer Orgel, lassen unseren Körper erbeben und werden von den Ohren kaum wahrgenommen. Die höchsten Frequenzen sind für Menschen (und insbesondere für ältere Menschen) nicht mehr zu hören, aber Fledermäuse nehmen sie wahr und nutzen sie in Form ihres Echos, um sich zu orientieren. Das ist eine der spannendsten Geschichten in der gesamten Naturgeschichte, aber ich habe ihr in Der blinde Uhrmacher ein gesamten Kapitel gewidmet, und deshalb werde ich jetzt der Versuchung widerstehen, weiter auszuholen.
Von Stimmgabeln und Glasharmonikas einmal abgesehen, kommen reine Sinuswellen eigentlich nur in der Mathematik vor. Normale Geräusche stellen meist eine komplizierte Klangmischung dar, aber es lohnt sich, sie zu entwirren. Unser Gehirn schafft das mühelos und noch dazu erstaunlich gut. Nur mit viel Mühe haben unsere mathematischen Kenntnisse mittlerweile so weit aufgeholt, dass wir heute und unvollständig verstehen, was unser Gehör von frühester Kindheit an mühelos entwirrt hat – während unser Gehirn es wieder verwebt.
Angenommen, wir lassen eine Stimmgabel mit einer Frequenz von 440 Schwingungen in der Sekunde (das heißt 440 Hertz) klingen. Dann hören wir einen reinen Ton: das eingestrichene A. Was ist der Unterschied zwischen diesem Klang und einer Violine, die das eingestrichene A spielt, einer Klarinette, die das gleiche A spielt, einer Oboe oder einer Flöte? Die Antwort: Jedes Instrument fügt eine Mischung aus weiteren Schwingungen hinzu, deren Frequenzen jeweils andere Vielfache des Grundtons sind. Jedes Instrument, das ein eingestrichenes A spielt, gibt den größten Teil seiner Schallenergie bei der Frequenz des Grundtons (440 Hz) ab, der aber von geringen Vibrationen bei 880 Hz, 1320 Hz und so weiter überlagert wird. Diese Schwingungen nennt man Obertöne. Ein «einzelner» Ton einer Trompete besteht in Wirklichkeit aus zahlreichen Obertönen, und ihre Mischungsverhältnisse sind eine Art Kennzeichen, das die Trompete beispielsweise von einer Violine unterscheidet – spielt diese den «gleichen» Ton, erklingt die «violintypische» Obertonmischung. Noch verwickelter sind die Verhältnisse beim Beginn des Tons, beispielsweise beim schmetternden Einsatz eines Trompetenstoßes oder bei dem Kratzen, wenn der Geigenbogen die Saite berührt, aber darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen.
Von solchen Komplikationen abgesehen, hat der bleibende Teil eines Tons eine charakteristische «Trompeten»- (oder Violin- oder sonstige) Eigenschaft. Man kann nachweisen, dass der scheinbar einheitliche Ton eines Instruments in Wirklichkeit eine verflochtene Rekonstruktion unseres Gehirns ist, das die Sinuswellen addiert. Der Nachweis läuft folgendermaßen ab: Nachdem man herausgefunden hat, welche Sinuswellen beispielsweise zur Klangfarbe einer Trompete beitragen, lässt man die entsprechenden reinen «Stimmgabeltöne» erklingen, wobei man einen nach dem anderen hinzufügt. Kurze Zeit hört man die einzelnen Töne, als ob es sich wirklich
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