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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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umgebenden Luftmoleküle in Bewegung, sodass sie benachbarte Luftmoleküle anstoßen. Die Stimmgabel schwingt mit einer bestimmten Frequenz hin und her, und die Wellen der Luftbewegung pflanzen sich wie eine Folge immer größer werdender Kugeln in alle Richtungen fort. Jede Wellenfront ist ein Bereich höheren Druckes, auf den ein Gebiet mit vermindertem Druck folgt. Dann kommt in einem Abstand, der durch die Vibrationsgeschwindigkeit der Stimmgabel festgelegt wird, die nächste Wellenfront. Stellt man irgendwo in dem Raum ein winziges, sehr schnell reagierendes Barometer auf, schwingt seine Nadel mit jeder vorüberlaufenden Wellenfront auf und ab. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Barometernadel hin- und herbewegt, ist die Frequenz des Schalls. Das Ohr der Wirbeltiere ist nichts anderes als ein schnell reagierendes Barometer: Sein Trommelfell bewegt sich im Rhythmus der ankommenden Druckveränderungen nach innen und außen. Das Trommelfell ist seinerseits (über drei winzige, berühmte Knöchelchen namens Hammer, Amboss und Steigbügel, die in der Evolution durch Zweckentfremdung aus den Kiefergelenkknochen der Reptilien entstanden sind) mit der Schnecke oder Cochlea verbunden, einer Art kopfstehender Miniaturharfe. Ihre «Saiten» sind wie bei einer richtigen Harfe in einem sich verjüngenden Rahmen angeordnet. Die Saiten am schmalen Ende schwingen im Einklang mit hohen Tönen, jene am breiten Ende werden von tiefen Tönen in Bewegung versetzt. Die von der Cochlea kommenden Nerven sind im Gehirn genau entsprechend angeordnet, und deshalb wissen wir, ob ein tiefer oder ein hoher Ton das Trommelfell in Bewegung versetzt.
    Ganz anders die Ohren der Insekten: Sie sind keine kleinen Barometer, sondern kleine Wetterfahnen. Sie messen den Molekülstrom tatsächlich als Wind – allerdings ist es seltsamer Wind, denn er bewegt sich nur über eine kurze Strecke und schlägt dann die umgekehrte Richtung ein. Die wandernde Wellenfront, die wir als Druckveränderung wahrnehmen, ist auch eine Welle der Molekülbewegung: Mit steigendem Druck werden die Moleküle in einem kleinen Bereich verschoben, sinkt der Druck wieder, treten die Moleküle den Rückweg an. Während in unseren Barometerohren eine Membran über einen abgeschlossenen Raum gespannt ist, befindet sich in den Wetterfahnenohren der Insekten entweder ein Haar oder eine Membran, die über eine Kammer mit einem Loch gespannt ist. Beide werden durch die rhythmische Hin- und Herbewegung der Moleküle buchstäblich vor- und zurückgeblasen.
    Deshalb haben Insekten eine natürliche Begabung, die Richtung einer Schallquelle wahrzunehmen. Mit einer Wetterfahne kann jeder Dummkopf einen Nordwind von einem Ostwind unterscheiden, und ein einzelnes Insektenohr kann ohne weiteres eine Nord-Süd-Schwingung und eine Ost-West-Schwingung auseinander halten. Der Richtungssinn ist bei den Insekten in die Methode der Schallwahrnehmung schon eingebaut. Anders ein Barometer: Hier ist ein Druckanstieg nur ein Druckanstieg – woher die zusätzlichen Moleküle kommen, spielt keine Rolle. Wir Wirbeltiere mit unseren Barometerohren müssen deshalb die Meldungen der beiden Ohren vergleichen und daraus die Richtung der Schallquelle errechnen, ganz ähnlich, wie wir die Farbe durch Vergleich der Meldungen verschiedenartiger Zapfenzellen ermitteln. Das Gehirn vergleicht die Lautstärke, die auf die beiden Ohren einwirkt, und getrennt davon auch die Zeitpunkte, zu denen der Schall (insbesondere kurze, abgehackte Laute) eintreffen. Für solche Vergleiche eignen sich manche Geräusche besser als andere. Grillengesang ist in Tonhöhe und zeitlichem Ablauf so geschickt gestaltet, dass Wirbeltierohren ihn kaum lokalisieren können; Grillenweibchen dagegen mit ihren Wetterfahnenohren können die Schallquelle ohne weiteres ansteuern. Manchmal schafft das Zirpen der Grillen zumindest in meinem Wirbeltiergehirn sogar die Illusion, als springe die (in Wirklichkeit an einer Stelle sitzende) Grille wie ein Frosch hin und her.
    Schallwellen bilden ein Spektrum von Wellenlängen, das dem Regenbogen vergleichbar ist. Auch der Schall-Regenbogen lässt sich entwirren – nur deshalb können wir Geräuschen überhaupt einen Sinn entnehmen. Genau wie die Farbempfindung ein Etikett ist, das das Gehirn an Licht unterschiedlicher Wellenlänge anbringt, so sind auch die Tonhöhen innere Kennzeichnungen für Geräusche. Aber Geräusche bestehen bei weitem nicht nur aus der Tonhöhe, und hier wird das Entwirren

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