Der entzauberte Regenbogen
Identifizierung? An dieser Stelle müssen wir statistische Überlegungen über die Gesamtbevölkerung anstellen. Theoretisch könnte man einer Stichprobe von Männern aus der Bevölkerung Blut entnehmen und auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass zwei Männer sich an allen untersuchten Loci gleichen. Aber aus welchem Querschnitt der Bevölkerung soll die Stichprobe stammen?
Erinnern wir uns noch einmal an unseren einsamen Bartträger bei der altmodischen Identifizierung. Jetzt kommt die molekulare Entsprechung. Angenommen, auf der ganzen Welt hat nur einer von einer Million Männern das Muster M. Heißt das, dass der Verdächtige A nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu einer Million fälschlich überführt wird? Nein. Der Verdächtige A könnte zu einer ethnischen Minderheit gehören, deren Vorfahren aus einem ganz bestimmten Teil der Erde eingewandert sind. Solche Bevölkerungsgruppen haben häufig gemeinsame genetische Besonderheiten, ganz einfach, weil sie von denselben Vorfahren abstammen. Von den 2,5 Millionen Südafrikanern niederländischer Herkunft, den Buren, stammen die meisten von den Einwanderern ab, die 1652 mit einem einzigen Schiff aus Europa kamen. Dieses enge genetische Nadelöhr spiegelt sich unter anderem in der Tatsache wider, dass etwa eine Million von ihnen noch heute die Familiennamen von 20 der ursprünglichen Siedler trägt. Bei den Buren kommen manche genetischen Erkrankungen viel häufiger vor als in der Weltbevölkerung insgesamt. Nach einer Schätzung leiden beispielsweise etwa 8000 von ihnen (das heißt einer unter 300) an der Blutkrankheit Porphyria variegata, die in der übrigen Welt viel seltener ist. Das liegt anscheinend daran, dass die Betroffenen Nachkommen eines ganz bestimmten Paares aus dem Einwandererschiff sind. Das Paar hieß Gerrit Jansz und Ariaantje Jacobs, aber wer von beiden das (dominante) Gen für die Krankheit trug, ist nicht bekannt. (Ariaantje war eines von sechs Waisenmädchen aus Rotterdam, die man auf das Schiff verfrachtete, damit die Siedler auch Frauen hatten.) Bevor es die moderne Medizin gab, fiel die Krankheit überhaupt nicht auf, denn ihr wichtigstes Symptom ist eine tödliche Reaktion auf bestimmte moderne Narkosemittel. (Südafrikanische Krankenhäuser führen heute routinemäßig den Gentest durch, bevor sie eine Narkose verabreichen.) Solche lokalen Häufungen bestimmter Gene findet man auch in anderen Bevölkerungsgruppen, und zwar aus den gleichen Gründen. Aber kehren wir zu unserem hypothetischen Strafverfahren zurück: Wenn der Verdächtige A und der tatsächliche Täter zu der gleichen Minderheit gehören, ist die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Verwechslung unter Umständen ungleich größer, als man es vermuten würde, wenn man eine Schätzung auf die Gesamtbevölkerung stützt. Wie häufig das Muster M unter den Menschen insgesamt ist, spielt dann keine Rolle mehr. Wir müssen wissen, wie häufig es in der Gruppe vorkommt, zu der unser Verdächtiger gehört.
Das ist nichts Neues. Wie wir bereits gesehen haben, besteht die gleiche Gefahr auch bei einer herkömmlichen Identifizierung. Ist der Hauptverdächtige ein Chinese, reicht es nicht aus, wenn man ihn in eine Reihe mit lauter Europäern stellt. Die gleichen statistischen Überlegungen zum Umfeld muss man nicht nur bei der Identifizierung einzelner Verdächtiger, sondern auch bei gestohlenen Gegenständen anstellen. Ich habe bereits erwähnt, dass ich bei einem Gericht in Oxford einmal als Geschworener tätig war. In einem der drei Fälle, über die ich entscheiden musste, sollte der Angeklagte einem konkurrierenden Münzensammler drei Münzen gestohlen haben. Man hatte im Besitz des Angeklagten drei Münzen gefunden, die den abhanden gekommenen Exemplaren glichen. Der Anklagevertreter war sehr beredt.
Meine Damen und Herren Geschworenen, sollen wir wirklich glauben, dass drei Münzen genau der gleichen Art wie die drei abhanden gekommenen Exemplare sich rein zufällig im Haus eines konkurrierenden Sammlers befinden? Sie müssen doch zugeben, dass man an einen solchen Zufall nicht glauben kann.
Geschworene haben nicht das Recht, ein Kreuzverhör durchzuführen. Das war die Aufgabe des Verteidigers, und der war zwar zweifellos juristisch bewandert und ebenfalls sehr beredt, aber von Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte er nicht mehr Ahnung als der Ankläger. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er ungefähr Folgendes gesagt:
Euer Ehren, wir wissen
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