Der entzauberte Regenbogen
Glattrasierten). In einem aber wären sich alle Statistiker einig: Die Chance einer rein zufälligen falschen Identifizierung läge mindestens bei 1 zu 20. Dennoch geben Anwälte und Richter sich in der Regel damit zufrieden, dass der Verdächtige bei der Identifizierung in einer Reihe mit nur 20 Männern steht.
Nachdem die Zeitung Independent am 12. Dezember 1992 über einen Fall im Old Bailey (dem zentralen Londoner Strafgerichtshof) berichtet hatte, in dem DNA-gestützte Indizien nicht zugelassen worden waren, sagte das Blatt eine Flut von Berufungsverfahren voraus. Dahinter steckte die Vorstellung, alle Verurteilten, die derzeit aufgrund einer DNA-gestützten Identifizierung im Gefängnis saßen, könnten sich nun auf diesen Präzedenzfall berufen und die Wiederaufnahme ihres Verfahrens verlangen. In Wirklichkeit könnte die Flut sogar noch größer werden, als der Independent es ausmalte, denn wenn die Nichtzulassung derartiger Indizien tatsächlich ein ernst zu nehmender Präzedenzfall ist, erheben sich Zweifel bei allen Fällen, in denen die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Fehlers geringer als ein paar tausend zu eins ist. Wenn ein Zeuge sagt, er habe jemanden «gesehen» und bei der Identifizierung in der Reihe wieder erkannt, sind Anwälte und Geschworene zufrieden. Aber wenn das menschliche Auge im Spiel ist, ist die Wahrscheinlichkeit einer falschen Identifizierung viel größer, als wenn der Nachweis durch DNA-Fingerabdrücke erfolgt. Wenn wir den Präzedenzfall also ernst nehmen, müsste das bedeuten, dass jeder überführte Verbrecher im ganzen Land gute Aussichten hat, wegen einer fehlerhaften Identifizierung Berufung einzulegen. Selbst wenn Dutzende von Zeugen den Verdächtigen mit einer rauchenden Pistole in der Hand gesehen haben, muss die Wahrscheinlichkeit eines Fehlurteils größer sein als eins zu einer Million.
Ein anderes Beispiel dafür, wie man mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung Schindluder treiben kann, ist ein Fall aus Amerika, über den ausführlich berichtet wurde und bei dem die Geschworenen im Zusammenhang mit den DNA-gestützten Indizien systematisch in die Irre geführt wurden. Der Angeklagte stand wegen Mordes an seiner Frau vor Gericht, und man wusste von ihm, dass er sie geschlagen hatte. Ein Mitglied des hochkarätigen Verteidigerteams, ein Juraprofessor der Harvard-Universität, vertrat folgende Argumentation: Die Statistik zeigt, dass nur einer von tausend Männern, die ihre Frau schlagen, sie auch umbringt. Daraus würde wohl jede Jury den Schluss ziehen (und diesen Schluss sollte sie ziehen), dass die Schläge des Angeklagten gegen seine Frau in dem Mordverfahren eine Entlastung darstellten. Zeigten die statistischen Belege nicht eindeutig, dass ein Mann, der seine Frau schlägt, sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ermordet? Falsch. Im Juni 1995 erläuterte Dr. I. J. Good, ein Professor für Statistik, in einem Brief an die Wissenschaftszeitschrift Nature den Fehlschluss. Die Argumentation der Verteidigung übersieht die zusätzliche Tatsache, dass der Mord an Ehefrauen im Vergleich zu Schlägen gegen Ehefrauen selten ist. Betrachtet man dagegen die Minderheit der Ehefrauen, die von ihren Männern geschlagen und von irgendjemand ermordet werden, dann ist es nach Goods Berechnungen sehr wahrscheinlich, dass der Mörder tatsächlich der Ehemann ist. Das allein ist aber der richtige Weg, um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, denn in dem fraglichen Fall war die unglückliche Frau von irgendjemandem ermordet worden, nachdem ihr Mann sie geschlagen hatte.
Zweifellos könnten viele Anwälte, Richter und Justizbeamte davon profitieren, wenn sie die Wahrscheinlichkeitstheorie besser verstünden. Manchmal kann man sich aber nicht des Verdachts erwehren, dass sie sehr gut Bescheid wissen und ihre Unkenntnis nur vortäuschen. Ob es in dem gerade beschriebenen Fall so war, weiß ich nicht. Den gleichen Verdacht äußerte auch Doktor Theodore Dalrymphe, der sarkastische Medizinberichterstatter der Londoner Zeitung Spectator , am 7. Januar 1995 in einem seiner typischen, beißenden Berichte. Er war als Sachverständiger zur Voruntersuchung eines Mordfalles geladen:
… ein wohlhabender, erfolgreicher Mann, den ich kannte, hatte 200 Tabletten und eine Flasche Rum geschluckt. Der Untersuchungsrichter fragte mich, ob er sie zufällig genommen haben könne. Ich wollte gerade vernehmlich und selbstsicher Nein sagen, da präzisierte der Untersuchungsrichter seine
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