Der entzauberte Regenbogen
abhängt, sollte man die Beweise sicherheitshalber prüfen. Nehmen wir nun einmal an, jemand erzählt uns, seine Tante könne sich durch Meditation und Willenskraft in die Luft erheben. Man sagt uns, sie sitze im Schneidersitz, und wenn sie dann schöne Gedanken denkt und ein Mantra anstimmt, löst sie sich vom Boden und schwebt in der Luft. Warum sollten wir dieses Mal skeptischer sein, als wenn uns jemand erzählt, seine Tante wohne in Peterborough, wo wir uns doch in beiden Fällen auf das Wort eines angeblichen Augenzeugen verlassen können?
Die nahe liegende Antwort lautet: Schweben durch Willenskraft ist wissenschaftlich nicht zu erklären. Aber damit ist nur die heutige Wissenschaft gemeint. Womit wir wieder bei Clarkes Drittem Gesetz und der wichtigen Erkenntnis wären, dass die Wissenschaft jedes Zeitalters nicht über alle Antworten verfügt und eines Tages überholt sein wird. Vielleicht haben die Physiker irgendwann in der Zukunft umfassende Kenntnisse über die Schwerkraft, sodass sie einen Anti-Gravitationsapparat bauen können. Man könnte sich vorstellen, dass schwebende Tanten für unsere Nachkommen irgendwann genauso alltäglich sind wie Düsenflugzeuge für uns. Verschafft uns das Dritte Clarkesche Gesetz also eine Rechtfertigung, alle abenteuerlichen Geschichten zu glauben, die man uns über angebliche Wunder erzählt? Wenn jemand behauptet, er habe seine Tante im Schneidersitz schweben gesehen, oder ein Türke sei auf einem Zauberteppich über die Minarette gesaust – sollen wir diese Geschichte dann schlucken, weil unsere Vorfahren Unrecht hatten, als sie die Möglichkeit von Radiosendungen bezweifelten? Nein, natürlich ist das keine ausreichende Begründung, um an schwebende Menschen oder Zauberteppiche zu glauben. Aber warum nicht?
Das Dritte Clarkesche Gesetz gilt nicht in umgekehrter Richtung. Aus der Feststellung, dass «jede weit genug entwickelte Technologie nicht von Magie zu unterscheiden ist», folgt eben nicht, dass «jede Behauptung über Zauberei, die irgendjemand irgendwann aufstellt, nicht von einem zukünftigen technologischen Fortschritt zu unterscheiden ist». Ja, es gab Fälle, in denen maßgebliche Skeptiker später wie begossene Pudel dastanden. Aber viel größer war die Zahl der Behauptungen über Magie, die aufgestellt und nie bestätigt wurden. Ein paar Dinge, die uns heute überraschen würden, werden in Zukunft Wirklichkeit sein. Aber viel mehr Dinge, die uns heute überraschen würden, werden in Zukunft nicht Wirklichkeit sein. Das Kunststück besteht darin, die Minderheit vom Unsinn zu unterscheiden – von Behauptungen, die immer im Bereich von Phantasie und Zauberei bleiben werden.
Wenn jemand eine verblüffende oder wundersame Geschichte präsentiert, können wir uns als erstes fragen, ob derjenige, von dem sie stammt, ein Motiv zum Lügen hat. Oder aber wir testen seine Glaubwürdigkeit auf andere Weise. Dabei fällt mir ein unterhaltsames Abendessen mit einem Philosophen ein, der mir folgende Geschichte erzählte: Als er einmal in der Kirche war, bemerkte er einen Geistlichen, der in kniender Haltung 20 Zentimeter über dem Kirchenboden schwebte. Meine natürliche Skepsis gegenüber dem Tischnachbarn wuchs, als er mir anschließend von zwei weiteren eigenen Erlebnissen berichtete. Während seines bewegten Berufslebens, so sagte er, sei er auch einmal Aufseher in einem Heim für kriminelle Jugendliche gewesen, und dort habe er bemerkt, dass alle Jungen auf dem Penis die eintätowierten Worte «Ich liebe meine Mutter» trugen. Schon das war eigentlich unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Anders als im Fall des schwebenden Priesters würden keine großartigen wissenschaftlichen Prinzipien in Frage gestellt, wenn es stimmen würde. Dennoch warf es ganz offensichtlich ein aufschlussreiches Licht auf die Glaubwürdigkeit meines Nachbarn. Ein anderes Mal hatte der redselige Schwadroneur angeblich zugesehen, wie eine Krähe ein Streichholz anzündete und dabei einen Flügel hob, um den Wind abzuhalten. Ob die Krähe anschließend auch einen Zug aus der Zigarette nahm, habe ich vergessen, aber in jedem Fall schienen die drei Geschichten insgesamt zu belegen, dass mein Nachbar ein zwar amüsanter, aber unzuverlässiger Augenzeuge war. Um es vorsichtig auszudrücken: Die Hypothese, dass er ein Lügner war (oder ein Irrer oder ein Mensch mit Wahnvorstellungen oder jemand, der die Leichtgläubigkeit der Oxforder Professoren auf die Probe stellen wollte), erschien
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