Der entzauberte Regenbogen
«gestartet» waren, keinen Zentimeter entfernt. Vielmehr hatten wir einfach auf einer Gartenbank gesessen, die unser Vater und unser Onkel angehoben, geneigt und geschüttelt hatten, um die Bewegung in der Luft nachzuahmen. Die Rolle des Motors hatte ein lauter Staubsauger übernommen, und ein Ventilator hatte uns den Wind ins Gesicht geblasen. Dafür und für die Zweige, die uns streiften, hatten unsere Mutter und unsere Tante gesorgt, die neben der Bank standen. Solange es dauerte, hatte es Spaß gemacht.
Damals waren wir leichtgläubige, vertrauensselige Kinder, und wir hatten uns schon tagelang auf den versprochenen Flug gefreut. Kein einziges Mal hatten wir uns darüber gewundert, dass unsere Augen verbunden werden mussten. Wäre es nicht eine nahe liegende Frage gewesen, welchen Sinn ein Vergnügungsflug hat, wenn man nichts sieht? Nein: Unsere Eltern hatten uns einfach erklärt, aus einem nicht näher erläuterten Grund müssten sie uns die Augen verbinden, und wir nahmen es hin. Vielleicht griffen sie auf die altbewährte Ausrede zurück, sie wollten uns «die Überraschung nicht verderben». Wir fragten nie, warum die Erwachsenen uns verheimlicht hatten, dass mindestens einer von ihnen ein ausgebildeter Pilot sein musste – ich glaube, wir wollten nicht einmal wissen, wer von ihnen es war. Wir verfügten einfach nicht über die Denkweise des Skeptikers. Unser Vertrauen in die Eltern war so groß, dass wir uns nicht vor einem Absturz fürchteten. Und als sie uns die Augenbinden abnahmen, sodass wir den Spaß erkannten, glaubten wir deshalb nicht weniger an den Weihnachtsmann, die Zahnfee, Engel, himmlische Gefilde, ewige Jagdgründe und alle anderen Geschichten, die uns dieselben Erwachsenen erzählt hatten. Nebenbei bemerkt: Meine Mutter kann sich an den Vorfall nicht erinnern, aber sie weiß noch, wie ihr Vater ihr und ihrer kleinen Schwester den gleichen Streich spielte. Seine Geschichte war noch weiter hergeholt – das Flugzeug «startete» damals im Wohnzimmer, und er sagte den Kindern, sie sollten «den Kopf einziehen, wenn wir durch das Fenster fliegen». Dennoch fielen meine Mutter und ihre Schwester darauf herein.
Kinder sind von Natur aus leichtgläubig. Natürlich, wie könnte es anders sein? Wenn sie auf die Welt kommen, wissen sie nichts, und sie sind von Erwachsenen umgeben, die im Vergleich zu ihnen allwissend sind. Es stimmt tatsächlich, dass man sich an Feuer verbrennt, dass Schlangen beißen, dass man Sonnenbrand bekommt und – wie wir heute wissen – durch Krebs gefährdet ist, wenn man sich ungeschützt der Mittagssonne aussetzt. Außerdem ist der andere, wissenschaftlichere Weg zum Wissenserwerb – das Ausprobieren – oftmals nicht zu empfehlen, weil Fehlschläge einen zu hohen Preis fordern. Wenn die Mutter sagt, man solle wegen der Krokodile nicht im See baden, wäre es alles andere als eine gute Idee, wenn das Kind skeptisch-wissenschaftlich und «erwachsen» erwidert: «Danke, Mama, aber ich möchte es mit einem Experiment selbst überprüfen.» Ein solches Experiment würde man in allzu vielen Fällen nur einmal machen. Es ist also leicht zu erkennen, warum die natürliche Selektion – die den am besten Angepassten überleben lässt – eine experimentierfreudige, skeptische Denkweise unter Umständen bestraft und bei Kindern die einfache Vertrauensseligkeit begünstigt.
Aber das führt zu einem unangenehmen, unvermeidlichen Nebeneffekt. Wenn die Eltern etwas sagen, das nicht wahr ist, muss das Kind es ebenfalls glauben. Anders geht es nicht. Kinder unterscheiden nicht zwischen einer Warnung vor realen Gefahren und falschen Warnungen – beispielsweise dass man blind wird oder zur Hölle fährt, wenn man «sündigt». Wären sie dazu in der Lage, würden sie überhaupt keine Warnungen brauchen. Das Überlebenshilfsmittel Leichtgläubigkeit ist nicht teilbar. Man glaubt, was gesagt wird, ob es stimmt oder nicht. Eltern und andere Erwachsene wissen so viel, da ist es nur natürlich, wenn man sie für allwissend hält und ihnen vertraut. Und wenn sie nun erzählen, der Weihnachtsmann komme durch den Schornstein oder der Glaube könne «Berge versetzen», nimmt man ihnen natürlich auch das ab.
Kinder müssen vertrauensselig sein, damit sie die ihnen zugedachte «Larvenrolle» im Leben spielen können. Schmetterlinge haben Flügel, weil es ihre Aufgabe ist, Angehörige des anderen Geschlechts aufzuspüren und ihre Nachkommen auf neue Pflanzen zu verbreiten. Ihr Appetit ist
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