Der entzauberte Regenbogen
mäßig und wird durch einen gelegentlichen Schluck Blütennektar gestillt. Im Vergleich zur Raupe, die das Wachstumsstadium im Schmetterlingsleben darstellt, nehmen sie wenig Protein zu sich. Jungtiere haben ganz allgemein die Funktion, sich auf ihre Rolle als fortpflanzungsfähige Erwachsene vorzubereiten. Raupen sind dazu da, so schnell wie möglich zu fressen, damit sie sich in ausgewachsene Tiere verwandeln können, die fliegen, sich fortpflanzen und sich ausbreiten. Zu diesem Zweck brauchen Raupen keine Flügel; stattdessen besitzen sie kräftige Kiefer zum Kauen, und sie interessieren sich für nichts anderes als Fressen.
Aus ähnlichen Gründen müssen Kinder vertrauensselig sein. Sie sind «Informationsraupen», und sie sollen zu Erwachsenen heranreifen, die sich in einer auf Wissen gegründeten Gesellschaft erfolgreich fortpflanzen können. Die bei weitem wichtigsten Lieferanten ihrer Informationsnahrung sind die älteren Verwandten, insbesondere die Eltern. Und während Raupen starke, unersättliche Kiefer besitzen, mit denen sie die dicken Kohlblätter verschlingen, haben Kinder aus ganz ähnlichen Gründen aufnahmebereite Augen und Ohren sowie einen aufgeschlossenen, vertrauensvollen Geist, mit dem sie Sprache und andere Fertigkeiten in sich aufnehmen. Gewaltige Datenwellen, Gigabytes an Wissen strömen durch die Eingangstore des kindlichen Kopfes, und das meiste davon entstammt der Kultur, die von den Eltern und früheren Generationen aufgebaut wurde. Kinder werden nicht plötzlich zu Erwachsenen, sondern allmählich, so wie die Raupe, die sich in einen Schmetterling verwandelt.
Ich weiß noch, wie ich einmal vorsichtig versuchte, ein sechsjähriges Kind zu Weihnachten zu unterhalten: Zusammen mit dem kleinen Mädchen rechnete ich aus, wie lange der Weihnachtsmann brauchen würde, um durch alle Schornsteine der Welt zu fahren. Wenn ein Schornstein im Durchschnitt sechs Meter lang ist und wenn es vielleicht 100 Millionen Häuser gibt, in denen Kinder wohnen, wie schnell, fragte ich mich laut, müsste er wohl durch jeden einzelnen Schornstein rasen, um seine Arbeit am Weihnachtsabend zu schaffen? Da hätte er wohl kaum Zeit, auf Zehenspitzen in das Zimmer jedes Kindes zu schleichen, denn er musste doch sicher die Schallmauer durchbrechen, oder? Sie begriff, worum es ging und dass es da ein Problem gab, aber das kümmerte sie nicht im Geringsten. Sie ließ das Thema einfach fallen. Die nahe liegende Möglichkeit, dass ihre Eltern ihr etwas Falsches erzählt hatten, kam ihr offenbar nie in den Sinn. Sie hätte es sicher nicht so formuliert, aber unausgesprochen ergab sich daraus die Folgerung: Wenn die physikalischen Gesetze die Leistung des Weihnachtsmannes nicht erlauben – Pech für die physikalischen Gesetze. Ihr reichte es, dass ihre Eltern ihr erklärt hatten, der Weihnachtsmann komme während der paar Stunden am Heiligabend durch alle Schornsteine. Es musste so sein, denn Mama und Papa hatten es ja gesagt.
Nach meiner Überzeugung ist vertrauensselige Gutgläubigkeit bei Kindern etwas Normales und Gesundes, aber bei Erwachsenen kann sie zu einer ungesunden, sträflichen Einfalt werden. Zum wirklichen Erwachsenwerden gehört auch, dass man eine gesunde Skepsis kultiviert. Die offene Bereitschaft, sich täuschen zu lassen, kann man als kindisch bezeichnen, weil sie bei Kindern häufig – und berechtigt – ist. Wenn sie bei Erwachsenen erhalten bleibt, dann nach meiner Vermutung deshalb, weil man sich nach der verlorenen Sicherheit und den Tröstungen der Kindheit sehnt oder sie sogar schmerzlich vermisst. Isaac Asimov, berühmter Science-Fiction-Autor und Verfasser populärwissenschaftlicher Bücher, formulierte es 1986 einmal sehr treffend so: «Sieh dir eine beliebige Pseudowissenschaft an: Immer wirst du eine Schmusedecke finden, einen Daumen zum Lutschen, einen Rockzipfel zum Festhalten.» Die Kindheit ist für viele Menschen ein verlorenes Paradies, eine Art Himmelreich mit Sicherheit und Geborgenheit, mit seinen Phantasieflügen ins Land hinter den sieben Bergen, mit den Gutenachtgeschichten, bevor wir in den Armen unseres Teddybären in die Traumwelt gleiten. Im Rückblick sind die Jahre der Kindheit viel zu schnell vorüber. Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mich wie auf einem Drachen durch die Baumkronen fliegen ließen; dass sie mir Geschichten von der guten Fee und vom Weihnachtsmann erzählt haben, vom Magier Merlin und seinen Zaubersprüchen, vom Jesuskind und den drei Weisen
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