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Der entzauberte Regenbogen

Der entzauberte Regenbogen

Titel: Der entzauberte Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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möglicherweise übersehen, in der Mittagssonne ist sie gut auszumachen) und der Entfernung (ein Beutetier, das aus einem Abstand von 15 Zentimetern gut zu sehen ist, wird auf 100 Meter nicht erkannt).
    Stellen wir uns einmal einen Vogel vor, der durch den Wald flattert und nach Beute sucht. Er ist von Zweigen umgeben, und ein paar davon sind vielleicht essbare Raupen. Das Problem ist die schnelle Entscheidung. Wir können davon ausgehen, dass der Vogel immer mit Sicherheit feststellen könnte, ob ein scheinbarer Zweig in Wirklichkeit eine Raupe ist, wenn er sich die Sache wirklich aus der Nähe ansehen und eine Minute lang bei guten Lichtverhältnissen eingehend untersuchen würde. Aber das bei allen Zweigen zu tun würde zu lange dauern. Kleine Vögel mit hohem Stoffwechselumsatz müssen beängstigend oft etwas zu fressen finden, um am Leben zu bleiben. Würden sie jeden einzelnen Zweig wie mit einer Lupe untersuchen, wären sie verhungert, bevor sie die erste Raupe aufgespürt hätten. Um effizienter nach Futter zu suchen, müssen sie ihre Umgebung schneller und oberflächlicher durchmustern, selbst auf die Gefahr hin, dass ihnen dabei ein Teil der Nahrung entgeht. Der Vogel muss einen Mittelweg finden. Sucht er zu oberflächlich, entdeckt er nie etwas. Ist er zu gründlich, stöbert er zwar alle Raupen auf, die in sein Blickfeld geraten, aber das sind nur so wenige, dass er verhungert.
    Hier zwischen den Fehlertypen 1 und 2 zu unterscheiden, ist einfach. Einen falsch-negativen Fehler begeht ein Vogel, der an einer Raupe vorüberfliegt, ohne näher hinzusehen. Falsch-positiv ist sein Fehler, wenn er sich auf eine mutmaßliche Raupe konzentriert und dann entdeckt, dass es sich in Wirklichkeit um einen Zweig handelt. Die Strafe für den falsch-positiven Fehler ist die Zeit- und Energieverschwendung, die mit dem Anflug und der näheren Untersuchung verbunden ist: Sie ist im Einzelfall nicht dramatisch, kann sich aber zu tödlichen Ausmaßen addieren. Die Strafe für einen falsch-negativen Fehler ist eine verpasste Mahlzeit. Außerhalb von Wolkenkuckucksheim kann kein Vogel damit rechnen, dass ihm nie ein Fehler des Typs 1 oder 2 unterläuft. Jeder einzelne Vogel ist von der natürlichen Selektion auf einen Kompromiss programmiert: Er erreicht einen optimalen Mittelwert zwischen falsch-positiven und falsch-negativen Irrtümern. Manche Vögel tendieren dabei mehr zu Fehlern des Typs 1, andere neigen eher zum anderen Extrem. Das Optimum liegt irgendwo in der Mitte, und in seine Richtung steuert die natürliche Selektion.
    Welcher Mittelweg der beste ist, hängt von der jeweiligen Spezies ab. In unserem Beispiel kommt es außerdem auf die Bedingungen in dem Wald an, beispielsweise auf das Verhältnis zwischen Raupenpopulation und Zahl der Zweige. Diese Bedingungen können sich von Woche zu Woche ändern und sind unter Umständen auch von einem Wald zum nächsten unterschiedlich. Vögel sind wahrscheinlich so programmiert, dass sie ihre Vorgehensweise aufgrund ihrer statistischen Erfahrungen anpassen können. Aber ob erlernt oder nicht: Damit Tiere bei der Jagd Erfolg haben, müssen sie sich in der Regel so verhalten, als seien sie gute Statistiker. (Ich hoffe übrigens, ich brauche hier nicht die übliche Einschränkung wiederzukäuen: Nein, nein, die Vögel berechnen es nicht bewusst mit Taschenrechner und Wahrscheinlichkeitstabellen. Sie verhalten sich, als würden sie p-Werte ermitteln. Sie sind sich des p-Wertes ebenso wenig bewusst, wie sich ein Tennisspieler der Gleichungen für die parabelförmige Flugbahn des Balles bewusst ist.)
    Anglerfische nutzen die Leichtgläubigkeit der Grundeln und anderer kleiner Fische aus. Aber das ist eine unfaire, wertende Formulierung. Man sollte besser nicht von Leichtgläubigkeit sprechen, sondern sagen: Sie nutzen die unvermeidliche Tatsache, dass die kleinen Fische nur schwer den Mittelweg zwischen Fehlern des Typs 1 und 2 finden können. Die kleinen Fische müssen auch selbst fressen. Zu ihrer Nahrung gehören unter anderem kleine «Dinge», die windende Bewegungen machen, wie Würmer oder Krabben. Ihre Augen und ihr Nervensystem sind auf windende Bewegungen programmiert. Sie suchen danach, und wenn sie so etwas sehen, greifen sie zu. Diese Veranlagung nutzt der Anglerfisch: Er besitzt eine lange Angelrute, die in der Evolution aus einer Abwandlung der Wirbelsäule hervorgegangen ist und durch die natürliche Selektion von ihrem Ursprungsort an die Vorderseite der

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