Der entzauberte Regenbogen
zu sehen. Ich muss mich wirklich zu dem Gedanken zwingen, dass jede Nacht eine ganze Reihe Menschen stirbt, dass jede Nacht eine Riesenzahl von Menschen träumt, dass man oft von sterbenden Menschen träumt und dass wahrscheinlich jede Nacht mehrere hundert Menschen auf der Welt einen solchen Zufall erleben. Aber selbst wenn ich mir das überlege, schreit meine Intuition geradezu danach, das Zusammentreffen müsse eine Bedeutung haben, weil gerade ich es erlebt habe. Wenn die Intuition in diesem Fall tatsächlich einen falsch-positiven Fehler begeht, brauchen wir eine zufrieden stellende Erklärung dafür, warum die menschliche Intuition sich in dieser Richtung irrt. Als Darwinisten sollten wir auf einen möglichen Selektionsdruck achten, der das Schwergewicht in Richtung des Typs 1 oder 2 verschiebt.
Als Darwinist habe ich den Verdacht, dass unser Hang, uns von scheinbar unheimlichen Zufällen beeindrucken zu lassen (der ein Sonderfall unserer Neigung ist, nicht vorhandene Zusammenhänge zu sehen), mit der typischen Populationsgröße bei unseren Vorfahren und ihren relativ spärlichen Alltagserfahrungen zu tun hat. Anthropologische Untersuchungen, Fossilfunde und Beobachtungen an allen anderen Menschenaffen legen die Vermutung nahe, dass unsere Vorfahren während des größten Teils der letzten paar Millionen Jahre in kleinen, umherstreifenden Gruppen oder in winzigen Dörfern lebten. Beides würde bedeuten, dass sie nur mit wenigen Dutzend Freunden und Bekannten einigermaßen regelmäßig zusammenkamen und sich mit ihnen unterhielten. Ein vorgeschichtlicher Dorfbewohner konnte damit rechnen, dass er entsprechend der geringen Zahl seiner Bekannten häufig Berichte über verblüffende Zufälle hörte. Widerfuhr ein solcher Zufall jemandem, der nicht im eigenen Dorf wohnte, erfuhr man nichts davon. Deshalb stellte sich unser Gehirn darauf ein, Zusammenhänge zu bemerken und in atemloses Erstaunen zu verfallen, selbst wenn der Zufall in einem großen Freundes- und Bekanntenkreis eigentlich nicht besonders erstaunlich wäre.
Heute haben wir insbesondere durch Zeitungen, Radio und andere Mittel der massenhaften Nachrichtenverbreitung einen großen Einzugsbereich. Die Argumentation habe ich bereits dargelegt. Die größten und schauerlichsten Zufälle erreichen heute in Form reißerischer Berichte ein weit größeres Publikum, als es in früheren Zeiten möglich gewesen wäre. Unser Gehirn aber ist nach meiner Vermutung durch die natürliche Selektion aus alter Zeit so geeicht, dass es – eben nach den Maßstäben eines prähistorischen Dorfes – mit viel weniger Zufällen rechnet. Ein zufälliges Zusammentreffen beeindruckt uns, weil unser Erstaunlichkeits-Schwellenwert falsch angesetzt ist. Unsere subjektive Pednsza wurde von der natürlichen Selektion auf kleine Dörfer abgestimmt, und wie in so vielen Bereichen des modernen Lebens ist dieser Maßstab heute veraltet. (Mit einer ähnlichen Argumentation könnte man auch erklären, warum wir derart hysterische Angst vor Gefahren haben, die in den Zeitungen große Beachtung finden – vielleicht sind manche Eltern, die auf dem Schulweg ihrer Sprösslinge hinter jedem Laternenpfahl einen Kinderschänder lauern sehen, einfach «falsch geeicht».)
Ich vermute aber auch, dass noch ein zweiter Effekt in die gleiche Richtung wirkt. Wahrscheinlich erleben wir unter den heutigen Bedingungen pro Stunde viel mehr als in früheren Zeiten. Unser Tagesablauf besteht nicht nur daraus, dass wir morgens aufstehen, uns auf die gleiche Weise wie gestern unseren Lebensunterhalt zusammenkratzen, ein- oder zweimal etwas essen und dann wieder schlafen gehen. Wir lesen Bücher und Zeitschriften, wir sehen fern, wir reisen mit großer Geschwindigkeit an unbekannte Orte, wir begegnen Tausenden von Menschen auf der Straße, wenn wir zur Arbeit gehen. Die Zahl der Gesichter, der unterschiedlichen Situationen und der verschiedenartigen Gegenstände, mit denen wir uns auseinander setzen müssen, ist viel größer als bei unseren Vorfahren in den Dörfern. Das bedeutet, dass sich auch viel mehr Gelegenheiten für ein zufälliges Zusammentreffen bieten als früher, zu viele, als dass unser Gehirn sie mit seiner Eichung richtig beurteilen könnte. Dieser zusätzliche Effekt kommt zu den bereits beschriebenen, allgemeinen Auswirkungen der Populationsgröße noch hinzu.
Theoretisch könnten wir uns im Hinblick auf beide Effekte neu eichen und lernen, unsere Verblüffungsschwelle anzuheben, sodass
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