Der entzauberte Regenbogen
sie eher zur Bevölkerungsgröße und Erfahrungsvielfalt der heutigen Welt passt. Aber das ist anscheinend selbst für ausgebildete Naturwissenschaftler und Mathematiker mit aufschlussreichen Schwierigkeiten verbunden. Immer noch sind wir hier und da verblüfft, und Hellseher, «Medien», Parapsychologen und Astrologen schaffen es, sich auf unsere Kosten ein schönes Leben zu machen; das legt unter dem Strich den Schluss nahe, dass uns die neue Eichung bisher nicht gelungen ist. Es lässt vermuten, dass sich die Gehirnteile, die uns zu intuitiven Statistikern machen, noch in der Steinzeit befinden.
Das Gleiche dürfte auch ganz allgemein für die Intuition gelten. Der angesehene Embryologe Lewis Wolpert vertritt in seinem Buch The Unnatural Nature of Science die Ansicht, Naturwissenschaft sei so schwierig, weil sie mehr oder weniger systematisch der Intuition widerspreche. Im Gegensatz dazu steht der Standpunkt von T. H. Huxley (Darwins Kettenhund), wonach Naturwissenschaft «nichts anderes ist als gut erzogener, organisierter gesunder Menschenverstand, und sie unterscheidet sich von Letzterem nur wie ein Veteran von einem jungen Rekruten». Naturwissenschaftliche Methoden, so Huxley, «unterscheiden sich von denen des gesunden Menschenverstandes nur insofern, als auch der Hieb und Stoß eines Gardisten sich von der Art unterscheiden, wie ein Wilder seinen Knüppel schwingt». Wolpert dagegen beharrt darauf, Naturwissenschaft sei zutiefst paradox und überraschend, keine Erweiterung des gesunden Menschenverstandes, sondern ein Schlag in sein Gesicht, und er liefert dafür eine stichhaltige Begründung. Beispielsweise nehmen wir jedes Mal, wenn wir ein Glas Wasser trinken, mindestens ein Wassermolekül auf, das schon durch die Blase von Oliver Cromwell gegangen ist. Das ergibt sich durch Hochrechnung aus Wolperts Beobachtung, dass «sich in einem Glas Wasser viel mehr Wassermoleküle befinden als Gläser Wasser im Meer». Newtons Gesetz, wonach Gegenstände in Bewegung bleiben, bis sie aktiv angehalten werden, widerspricht der Intuition. Das Gleiche gilt auch für Galileis Entdeckung, dass leichte und schwere Gegenstände gleich schnell fallen, wenn kein Luftwiderstand vorhanden ist. Ebenso verhält es sich mit der Tatsache, dass feste Materie und selbst ein harter Diamant fast ausschließlich aus leerem Raum bestehen. Eine aufschlussreiche Erörterung der entwicklungsgeschichtlichen Ursprünge unserer Intuition liefert Steven Pinker in seinem 1998 erschienenen Buch Wie das Denken im Kopf entsteht .
Tiefer gehen die Schwierigkeiten, die wir mit den Erkenntnissen der Quantentheorie haben. Sie sind durch experimentelle Befunde mit einer unglaublichen Zahl von Dezimalstellen hieb- und stichfest belegt, und doch erscheinen sie dem in der Evolution entstandenen menschlichen Geist so fremdartig, dass selbst studierte Physiker sie nicht intuitiv begreifen. Es scheint, als befinde sich nicht nur unsere intuitive Statistikfähigkeit, sondern unser gesamter Verstand noch in der Steinzeit.
8 Wolkige Symbole von höchster Romantik
Vergülden feines Gold, die Lilie malen,
Auf die Viole Wohlgerüche streun,
Eis glätten, eine neue Farbe leihn
Dem Regenbogen und mit Kerzenlicht
Des Himmels schönes Auge schmücken wollen
Ist lächerlich und unnütz Übermaß.
William Shakespeare, König Johann (IV, ii)
Eine zentrale Aussage dieses Buches lautet: Richtig verstandene Naturwissenschaft lässt Raum für Poesie. Sie sollte sich nützlicher Analogien und Metaphern bedienen, die unsere Phantasie anregen und in unserem Geist Bilder und Assoziationen heraufbeschwören, die über die reine Notwendigkeit des Verstehens hinausgehen. Aber es gibt nicht nur gute, sondern auch schlechte Poesie, und schlechte poetische Naturwissenschaft kann die Vorstellungskraft auf eine falsche Fährte locken. Diese Gefahr ist das Thema des nun folgenden Kapitels. Mit schlechter poetischer Naturwissenschaft meine ich keine unqualifizierten oder uninteressanten Schriften, sondern eigentlich fast das Gegenteil: Mir geht es um die Möglichkeit, dass poetische Bilder und Metaphern zum Anlass für schlechte Naturwissenschaft werden, selbst und vielleicht gerade wenn es sich dabei um gute Poesie handelt, die dann nur umso leichter in die Irre führt.
Schlechte Poesie in Form eines übermäßig-schwelgerischen Sinnes für poetische Allegorien oder einer Inflation nebensächlicher, bedeutungsloser Vergleiche, die in «wolkige Symbole von höchster Romantik»
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