Der entzauberte Regenbogen
Rückenflosse verlegt wurde. Der Anglerfisch selbst ist hervorragend getarnt und liegt oft stundenlang bewegungslos auf dem Meeresboden, wo er völlig mit Pflanzen und Steinen zu verschmelzen scheint. Sein einziger auffälliger Körperteil ist ein «Köder» am Ende der Angel, der wie ein Wurm, ein Krebs oder ein kleiner Fisch aussieht. Bei manchen Arten, die in der Tiefsee zu Hause sind, leuchtet der Köder sogar. Und in jedem Fall scheint er wie etwas Essbares windende Bewegungen zu machen, sobald der Anglerfisch die Rute schwenkt. Das lockt einen potentiellen Beutefisch an, beispielsweise eine Grundel. Eine Zeit lang «spielt» der Anglerfisch mit der Beute, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, und dann zieht er den Köder hinunter in den noch unverdächtigen Bereich unmittelbar vor seinem eigenen, unsichtbaren Maul. Häufig kommt der kleine Fisch hinterher – und dann ist das gewaltige Maul auf einmal überhaupt nicht mehr unsichtbar. Es tut sich auf, das heftig einströmende Wasser reißt jeden beweglichen Gegenstand in der Umgebung mit, und der kleine Fisch hat zum letzten Mal einen Wurm verfolgt.
Eine Grundel, die auf der Jagd ist, kann jeden einzelnen Wurm übersehen oder entdecken. Hat sie den «Wurm» aufgespürt, kann er sich entweder als echter Wurm oder als Lockmittel eines Anglerfisches erweisen, und damit steht der unglückliche Fisch vor einem Dilemma. Ein falsch-negativer Fehler würde darin bestehen, dass er von dem Angriff auf einen schmackhaften Wurm absieht, weil er fürchtet, es könne sich um den Köder seines Feindes handeln. Falschpositiv wäre der Irrtum, wenn er sich auf einen Wurm stürzt und dann feststellt, dass es ein Köder ist. Wieder einmal ist es in der Praxis unmöglich, sich immer richtig zu verhalten. Ein Fisch, der zu risikoscheu ist, schnappt niemals nach Würmern und verhungert. Ist er zu wagemutig, muss er zwar nicht hungern, aber er wird unter Umständen selbst gefressen. Das Optimum dürfte in diesem Fall nicht in der Mitte liegen, sondern erstaunlicherweise bei einem der beiden Extreme. Unter Umständen sind die Anglerfische so selten, dass die natürliche Selektion ein Verhaltensextrem begünstigt, bei dem sich der Fisch auf alles stürzt, was nur nach Wurm aussieht. Besonders gut gefällt mir eine Bemerkung, die der Philosoph und Psychologe William James an angelnde Menschen richtet:
Es gibt mehr Würmer, die nicht an Haken hängen, als solche, die aufgespießt sind; deshalb, so sagt die Natur ihren Fischkindern, beißt nach jedem Wurm und nutzt eure Chance.
(1910)
Wie alle anderen Tiere und sogar Pflanzen, so müssen sich auch Menschen intuitiv wie Statistiker verhalten. Der Unterschied besteht nur darin, dass wir unsere Berechnungen doppelt anstellen können: einmal intuitiv, als wären wir Vögel oder Fische, und ein zweites Mal in aller Ausführlichkeit mit Bleistift und Papier oder mit dem Computer. Dabei neigen wir zu der Annahme, die Methode mit Papier und Bleistift müsse die richtige Antwort liefern, solange wir keinen offenkundigen Fehler machen und beispielsweise das Datum hinzurechnen, während die intuitive Vorgehensweise unter Umständen zu falschen Ergebnissen führen könne. Aber streng genommen gibt es selbst bei statistischen Berechnungen mit Bleistift und Papier keine «richtige» Lösung. Zwar kann man auf richtigen Wegen die Summe ermitteln und die p-Werte berechnen, aber welches Kriterium wir anlegen, das heißt, welchen Schwellen-p-Wert wir fordern, bevor wir etwas Bestimmtes tun, ist unsere Entscheidung und hängt von unserer Risikobereitschaft ab. Ist die Strafe bei einem falsch-positiven Fehler viel härter als bei einem falsch-negativen, werden wir eher einen vorsichtig hohen Schwellenwert ansetzen und uns aus Angst vor den Folgen fast nie auf einen «Wurm» stürzen. Sind die Risiken dagegen umgekehrt verteilt, probieren wir es mit jedem «Wurm», den wir finden: Erwischen wir den falschen, hat das kaum Folgen, und deshalb können wir es ebenso gut versuchen.
Nachdem wir nun die Notwendigkeit kennen gelernt haben, uns zwischen falsch-positiven und falsch-negativen Fehlern durchzulavieren, möchte ich zu den unheimlichen Zusammentreffen zurückkehren und mich noch einmal mit der Berechnung der Wahrscheinlichkeit befassen, dass es ohnehin geschieht. Wenn ich von einem längst vergessenen Bekannten träume, der in derselben Nacht stirbt, bin ich wie jeder andere versucht, in diesem Zusammentreffen eine Bedeutung oder Gesetzmäßigkeit
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