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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gab ihm keine Gelegenheit, erneut zu widersprechen, sondern öffnete die Tür und lief rasch den Korridor zum Ausgang hinab.
    H. P. folgte mir, ging an mir vorbei, als ich stehenblieb, und öffnete die Haustür. Mir fiel auf, daß es außer dem Schloß und der Vorlegekette noch zwei weitere Riegel gab. Der Schwall eisiger Luft, der mir entgegenschlug, als H. P. die Tür öffnete, ließ mich frösteln. Ich zog den Mantel enger um die Schultern, trat einen Schritt aus dem Haus und sah mich mit einer Mischung aus Unbehagen und Erleichterung um. Es war nicht mehr dunkel, aber es war auch noch nicht hell. Auf der Straße herrschte dieses seltsame Zwielicht aus allmählich weichender Nacht und flackernder grauer Dämmerung, in dem man fast noch weniger sah als bei wirklicher Dunkelheit. Und es war kalt. Sehr kalt.
    »Wann?« fragte ich.
    H. P. zog seine goldene Taschenuhr aus der Weste, klappte den Deckel auf und blickte einen Moment schweigend auf das Ziffernblatt. »Jetzt ist es sechs«, murmelte er. »Bis du zu Hause bist und dich ein wenig ausgeruht hast …« Er sah auf.
    »Sagen wir drei?«
    »Um drei am Piccadilly Circus«, bestätigte ich. Ich reichte ihm zum Abschied die Hand, wandte mich mit einem letzten, flüchtigen Lächeln um und ging mit schnellen Schritten in die unwirkliche Dämmerung hinein.

    Die Kälte hüllte mich ein wie ein eisiger Mantel. Die Straßen waren verlassen, als wäre dieser Teil Londons ausgestorben.
    Ich hatte meinen Entschluß, H. P.s Angebot auszuschlagen und zu Fuß zu gehen, schon nach wenigen Minuten bereut, aber ich war auch zu stolz, um zurückzugehen und seine Hilfe im Nachhinein doch noch anzunehmen. Außerdem schlief Rowlf wahrscheinlich schon längst, und ich wollte ihn nicht zum zweitenmal aus dem Bett klingeln. So ging ich einfach weiter.
    Und im Grund war ich ganz froh, für eine Weile allein zu sein, all die neuen Eindrücke ein wenig verarbeiten zu können.
    Ich vertraute H. P.. aber ich spürte, daß er mir mehr verschwie-gen als mitgeteilt hatte. Diesen Mann umgab ein undurchdringliches Netz von Geheimnissen.
    Meine Schritte erzeugten seltsame klackende Echos auf dem feuchten Kopfsteinpflaster der Straße. Der Nebel, der anfangs nur in dünnen Schwaden hier und da in der Luft gehangen hatte, hatte sich in den letzten Minuten verstärkt, im gleichen Maß, in dem die Nacht gewichen war, so daß es trotz der immer rascher hereinbrechenden Dämmerung nicht heller wurde.
    Ich stellte den Mantelkragen hoch, senkte den Kopf und ging schneller. Meine Hand glitt, ohne daß ich es im ersten Augenblick selbst merkte, unter den Mantel und suchte die Pistole.
    Irgendwie beruhigte mich das Gefühl, eine Waffe zu haben.
    Die Gegend, in der H. P.s Pension lag, war nicht umsonst verrufen. Und ich hatte wieder das gleiche, bedrückende Gefühl wie am vergangenen Abend: das Gefühl, von unsichtbaren Augen angestarrt und beobachtet zu werden …
    Es war nicht nur ein Gefühl.
    Ein Schatten tauchte vor mir im Nebel auf und verschwand wieder, zu schnell, als daß ich ihn erkennen konnte, dann hörte ich das hastige, von den grauen Schwaden gedämpfte Trappeln von Schritten.
    Abrupt blieb ich stehen. Meine Hand legte sich etwas fester um den Pistolengriff, aber ich zog die Waffe noch nicht. Wenn man mir wirklich auflauerte, dann war es vielleicht besser, den Burschen noch nicht zu zeigen, daß ich nicht ganz so wehrlos war, wie sie zu glauben schienen. Erneut fühlte ich mich auf absurde, aber schreckliche Weise an meinen Traum erinnert.
    Mein Blick bohrte sich in das wogende Grau, das mich umgab. Plötzlich fiel mir auf, wie eisig es geworden war: Meine Hände und mein Gesicht prickelten vor Kälte, und mein Atem bildete dünne Wölkchen vor meinem Gesicht.
    »Robert …«
    Die Stimme war nur ein Hauch, nicht mehr als das Rascheln des Windes in der Krone eines Baumes, und sie schien aus allen Richtungen zugleich zu kommen.
    Wieder tauchte vor mir ein Schatten auf, und wieder war er verschwunden, ehe ich ihn genauer ausmachen konnte.
    »Roooobeeeert …«
    Verwirrt starrte ich in den Nebel. Für einen ganz kurzen Moment glaubte ich, die Stimme meines Großvaters zu erkennen, aber das war wohl nur ein Wunsch, an den ich mich für eine Sekunde klammerte.
    Die Stimme ähnelte der meines Großvaters, aber sie hatte einen fremden, scharfen, irgendwie bösen Unterton. Schritte trappelten hinter mir auf dem Stein, dann hörte ich ein leises, kehliges Lachen.

    »Wer ist da?« fragte ich. Meine

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