Der Erbe der Nacht
begutachten.
»Aber das erkläre ich dir alles später«, fuhr er in verändertem Tonfall fort.
»Jetzt bringe ich dich erst einmal zu einem befreundeten Arzt. Und danach fahren wir gemeinsam zu dir nach Hause und packen. Du bist dort nicht mehr sicher.
Ich fürchte, ich habe unsere Gegner unterschätzt.«
»Ja«, seufzte ich. »Das scheint mir auch so.«
H. P.s Vorhaben, mich zu einem Arzt zu bringen, konnte ich mit Müh und Not noch verhindern meine Verletzungen waren allesamt nicht sehr schlimm, eigentlich kaum mehr als Kratzer, auch wenn einige davon ganz hundsgemein weh taten, und nach den letzten Tagen hatte ich ohnehin die Nase voll von allem, was auch nur irgendwie nach Arzt oder Klinik aussah.
Aber es kam noch etwas dazu auch wenn die Wunden nicht schlimm waren, so waren sie doch eindeutig die Spuren eines Kampfes, und ich vermochte mir lebhaft vorzustellen, was mein Freund Card dazu sagen würde, sollte er zufälligerweise davon erfahren.
Wovon ich ihn nicht abbringen konnte, war sein Entschluß, mich höchstpersönlich nach Hause zu begleiten und sich davon zu überzeugen, daß ich auch unbeschadet dort ankam. Und im Grund war ich damit ganz zufrieden. Nach allem, was passiert war, erschien mir der Gedanke, mutterseelenallein durch die Stadt zu marschieren, nicht sonderlich verlockend.
Allerdings rechnete ich nicht damit, daß wir mit der Kutsche zum Ashton Place fahren würden aber genau das tat H. P.
Wir mieden die belebteren Straßen und fuhren über Wege, die ich zum Teil gar nicht kannte, aber der schwarze Zweispänner erregte natürlich trotzdem Aufsehen; selbst in einer an Extra-vaganzen so gewöhnten Stadt wie London gehörte ein hundert Jahre alter Pferdewagen, der zur morgentlichen Hauptver-kehrszeit durch die Straßen rumpelte, nicht zu den Dingen, die man einfach übersieht. Die verwunderten Blicke, die uns nachgeworfen wurden, entgingen weder mir noch H. P. Einige Leute hielten extra ihre Wagen an, und ein- oder zweimal bemerkte ich sogar hastig hervorgeholte Fotoapparate, die auf uns gerichtet wurden.
Nach dem großen Aufheben, das H. P. darum gemacht hatte, unerkannt zu bleiben, erschien mir sein jetziges erhalten reichlich unverständlich.
Ich sprach ihn darauf an, erntete aber nur ein Achselzucken.
Überhaupt kam mir H. P.s Benehmen immer seltsamer vor er gab sich Mühe, es sich nicht allzudeutlich anmerken zu lassen, aber es war klar, daß er Angst hatte, verfolgt zu werden. Sein Blick irrte immer wieder aus dem Fenster, und mehr als einmal starrte er gebannt auf einen Punkt hinter uns oder am Straßenrand. Aber wenn er Angst hatte, verfolgt zu werden, wieso brachte er mich dann mit diesem Gefährt nach Hause?
Ich bekam auch auf diese Frage keine Antwort. H. P.
verhielt sich während des gesamten Weges sehr schweigsam.
Natürlich hatte ich tausend Fragen, aber er redete kaum ein Wort mit mir, sondern vertröstete mich auf später, wie er es schon im Lauf der Nacht mehrmals getan hatte. Schließlich gab ich auf.
Es ging auf sieben zu, als wir den Ashton Place erreichten.
Rowlf lenkte den Zweispänner an den dem Haus gegenüberliegenden Straßenrand und hielt ein paar Yards hinter meinem eigenen Wagen, einem funkelnagelneuen Porsche, den mir Großvater zu meinem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte.
H. P. öffnete schweigend den Wagenschlag und bedeutete mir mit einer fast befehlenden Geste auszusteigen. Ich gehorchte, hielt ihn aber am Arm zurück, als er die Tür unverzüglich wieder schließen wollte. »Kommst du denn nicht mit?« fragte ich.
H. P. schüttelte fast erschrocken den Kopf. Seine ohnehin dünnen Lippen wurden noch schmaler. Für die Dauer eines Herzschlages blickte er an mir vorbei zum Haus hinüber, und für die gleiche Zeitspanne glaubte ich so etwas wie Furcht in seinem Blick zu erkennen.
Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Nein«, sagte er.
»Wir müssen zurück. Ich habe … noch viel zu tun. Dinge, die keinen Aufschub dulden.«
Ich ließ seinen Arm los. Irgendwie war ich enttäuscht und erleichtert zugleich. H. P. verwirrte mich mehr, als ich mir eingestehen wollte. »Bleibt es bei unserer Verabredung?«
fragte ich.
H. P- schwieg einen Moment, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein. Ich muß … über Verschiedenes nachdenken. Ich melde mich bei dir, sobald ich gewisse Dinge herausgefunden habe.
Halte dich von der Uhr fern, am besten von dem ganzen Zimmer.« Und damit schloß er den Wagenschlag, noch ehe ich einen neuen Versuch
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