Der Erbe der Nacht
einen Kaffee«, sagte ich.
Dann drückte ich mit einer entschlossenen Bewegung die Tür auf.
Das Bild, das sich mir bot, übertraf meine schlimmsten Erwartungen. Das Zimmer war verwüstet, um es mit einem Wort auszudrücken. Die Spuren des Brandes waren überall: Die Tapeten waren geschwärzt, der Schreibtisch und ein Teil des übrigen Mobiliars zu schwarzen dürren Skeletten verkohlt, und von der wertvollen Büchersammlung in den Regalen war kaum mehr als graue Asche übriggeblieben. Als ich das Zimmer sah, erschien es mir fast wie ein Wunder, daß der Brand nicht auch auf die übrigen Teile des Hauses übergegrif-fen hatte.
Ich schob die Tür hinter mir zu, machte einen Schritt in den Raum hinein und blieb abermals stehen.
Das Feuer hatte viel zerstört, aber das Löschwasser der Feuerwehr hatte beinahe noch mehr Schaden angerichtet. Die Fußbodenbretter waren aufgequollen und glitschig, und alles war mit einer dünnen, schwarzen Schlammschicht überzogen.
Dann fiel mein Blick auf die Uhr.
Der Anblick überraschte mich nicht im geringsten, und trotzdem jagte er mir einen neuerlichen, eiskalten Schauer über den Rücken. Sie war völlig unversehrt.
Das uralte, rissige Holz hatte nicht einmal einen Rußfleck, und die vier unterschiedlich großen Ziffernblätter glänzten derartig, als wären sie gerade frisch poliert worden.
Ich riß mich mühsam von dem bizarren Anblick los, trat an den Kamin und betrachtete das Ölgemälde darüber. Der Brand hatte von dem Schinken nicht viel übriggelassen was mir nun nicht unbedingt das Herz brach, ehrlich gesagt , aber ich sah mich unversehens einer neuen Schwierigkeit gegenüber: Ich hatte keine Ahnung, wie man das Bild von der Seite bewegte.
Großvater hatte mir den geheimen Mechanismus, der es zur Seite schwingen ließ, ja nie erklärt. Und es war nach dem Feuer auch fraglich, ob er überhaupt noch funktionierte.
Schließlich löste ich das Problem auf eine sehr direkte Art: Ich riß das, was von dem scheußlichen Gemälde übrig war, einfach von der Wand. Dann lag der Safe vor mir.
Und ich kam mir wie ein Idiot von.
Erst, als ich die makellos glatte Panzerplatte sah, fiel mir wieder ein, daß der Tresor keinerlei sichtbaren Öffnungsme-chanismus hatte … Zehn Sekunden lang starrte ich die schimmernde Stahlplatte feindselig an, dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und begann sie Millimeter für Millimeter mit den Fingerspitzen abzutasten.
Nichts was hatte ich erwartet? Da war keine Unebenheit, kein verborgener Kontakt, rein gar nichts. In feiner Enttäuschung schlug ich schließlich völlig sinnlos mit der flachen Hand dagegen und knurrte: »Verdammt, geh endlich auf!«
Etwas machte deutlich hörbar ›klick‹, und die Safetür schwang lautlos nach draußen. Wieder vergingen zehn-, fünfzehn Sekunden, in denen ich nichts anderes tat als einfach dazustehen und den Safe mit offenem Mund anzustarren. Aber ich versuchte erst gar nicht, dieses neuerliche Rätsel zu lösen, sondern griff hinein, wuchtete das Necronomicon heraus und sah mich nach einer Sitzgelegenheit um, die das Feuer nicht völlig verwüstet hatte. Ich entdeckte einen Stuhl, der noch halbwegs vertrauenerweckend aussah, fegte mit dem Arm einige verkohlte Papierfetzen und die dünne Schlammschicht hinunter, die darauf lag, setzte mich und begann zu lesen …
Es mußten fast zwei Stunden vergangen sein, ehe ich endlich die Kraft fand, mich von der Lektüre des Necronomicons loszureißen und das Buch wieder zuzuklappen. Ich fühlte mich wie betäubt. Nur sehr wenig von dem, was auf den Seiten des Necronomicons niedergeschrieben war, hatte ich lesen können, und von diesem Wenigen wiederum hatte ich nur den allerkleinsten Teil verstanden.
Aber dieses winzige Bißchen schon hatte gereicht, mich bis auf den Grund meiner Seele zu erschüttern.
Es war, als hätte ich einen Blick in eine fremde, verbotene Welt getan, eine Welt, die nicht für Menschen gedacht war und in der menschliches Leben, menschliches Fühlen, ja, vielleicht jegliche Art von Leben nicht existieren konnte. Meine Hände zitterten, als ich aufstand und das Buch zum Safe zurücktrug.
Ich hatte Angst; Angst wie nie zuvor in meinem Leben.
Alles, was mein Großvater erzählt hatte, stand in diesem Buch, aber in viel entsetzlicheren, direkteren Worten, als er sie gefunden hatte. All das, was H. P. in der vergangenen Nacht angedeutet hatte, war wahr und nicht nur das die Wahrheit war tausendmal schlimmer, als ich selbst nach dem
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