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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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winziges Stückchen in jene Richtung verschoben, wo Alpträu-me und Wahnsinn nisten.

    Unsinn, dachte ich. Ich begann Gespenster zu sehen, das war alles. Was auch nur zu verständlich war nach allem, was ich durchgemacht hatte, in den letzten Tagen.
    Merlin stieß ein tiefes, drohendes Knurren aus, sprang mit einem Satz von meinen Armen und fegte davon.
    Und dann hörte ich es wieder, und diesmal ganz deutlich. Es waren Atemzüge.
    Aber nicht die Atemzüge eines Menschen.
    Es war ein tiefer, rasselnder, unendlich schwerer Laut, der mich wie eine körperliche Berührung streifte. Und er kam näher.
    Ich dachte nicht länger darüber nach, sondern fuhr herum, rannte wie von Sinnen die Treppe hinunter und hielt erst wieder an, als ich die Halle zur Hälfte durchquert hatte.
    Die Schatten waren noch da, aber sie hatten sich nicht bewegt, und auch das Atmen war nicht mehr zu hören. Was immer dort oben lauerte, es hatte mich nicht verfolgt.
    Ich blieb einen Moment stehen, drehte mich dann um und schlug den Weg zur Küche ein. Den Mut, die Treppe jetzt noch einmal hinaufzugehen, hatte ich nicht. Den hätte wohl niemand gehabt, in diesem Moment.

    Mary schenkte mir wortlos eine gewaltige Tasse Kaffee ein, als ich in ihr Reich geschlurft kam und mich setzte. Ich nickte dankbar, schüttete das Getränk in einem Zug hinunter und hielt ihr die Tasse auffordernd hin. Sie runzelte mißbilligend die Stirn, goß mir aber eine zweite Portion ein, ehe sie die Kanne demonstrativ zum Herd zurücktrug.
    »Wenn Sie mir eine Bemerkung gestatten, Sir« sagte sie.
    »Sie sehen schauderhaft aus. Sie sollten sich ins Bett legen und vierundzwanzig Stunden durchschlafen, statt Kaffee zu trinken.«
    Ich dachte an den Schatten auf der Treppe und verkroch mich hinter meiner Kaffeetasse, um nicht antworten zu müssen, aber Mary war nun einmal in Fahrt gekommen, und mein Schweigen schien sie zusätzlich zu ermuntern. Mit vor der Brust verschränkten Armen baute sie sich vor mir auf und schüttelte tadelnd den Kopf. »Sie haben wieder die ganze Nacht nicht geschlafen, stimmt’s?« fragte sie. Ich nickte widerstrebend.
    »Ja. Aber das macht nichts. Ich habe auf Vorrat geschlafen, in der Klinik.«
    »Unsinn«, sagte Mary entschieden. Ein weißes Katergesicht erschien neben ihrem Rock und blinzelte mißtrauisch zu mir herauf, verschwand aber sofort wieder, als ich auch nur die Hand bewegte. Wenn ich so weitermachte, würde ich mir Merlins Freundschaft wohl endgültig verscherzen.
    »Wo waren Sie die ganze Nacht?« fragte Mary. »Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, Robert.«
    »Ich habe versucht, etwas … herauszubekommen«, antwortete ich ausweichend.
    »Herauszubekommen?« Mary musterte mit unverhohlener Mißbilligung meinen desolaten Aufzug. Die blutigen Striemen an meinen Gelenken und die große Brandwunde auf meiner rechten Hand entgingen ihr Keineswegs. Card würden sie auch nicht entgehen, dachte ich bedrückt. Ich würde mir noch eine Geschichte einfallen lassen müssen.
    »Was herauszubekommen?« bohrte sie weiter.
    Ich setzte dazu an, ihr zu sagen, daß sie das nun wirklich nichts anginge. Aber ich tat es nicht. Mary meinte es nur gut, und nach den Ereignissen der letzten Tage konnte ich es mir nicht leisten, auch nur einen der wenigen Menschen, die mir wohlgesonnen waren, zu vergrämen.
    »Etwas, das mit Großvaters Tod zusammenhängt«, erklärte ich.
    »Das war kein Unfall, nicht wahr?« sagte Mary plötzlich.
    Das Schrillen der Türglocke bewahrte mich davor, antworten zu müssen. Mary lauschte einen Moment lang mit schräggehal-tenem Kopf, ob eines der Mädchen ging und aufmachte, und seufzte schließlich.
    »Wie üblich«, sagte sie. »Sie tun wieder so, als hörten sie es nicht. Einen Moment, Sir.«
    Kaum war sie aus der Küche, humpelte ich zum Herd und schenkte mir einen dritten Kaffee ein. Marys Todesgebräu weckte meine Lebensgeister allmählich wieder, doch mir war klar, daß sie recht hatte selbst ihr Kaffee befähigte einen nicht, ganz ohne Schlaf auszukommen, und früher oder später würde ich zu Bett gehen müssen. Aber ich hatte einfach Angst, die Treppe hinaufzugehen.
    Draußen in der Halle wurden Stimmen laut; die Marys und die eines Mannes, die mir bekannt vorkam, die ich im Moment aber nicht einzuordnen wußte. Ich stellte die halb geleerte Kaffeetasse auf den Tisch und schlenderte zur Tür. Es war H.
    P. In seiner Begleitung war ein ältlicher, mit einem eleganten Anzug bekleideter grauhaariger Herr, den ich nie zuvor

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