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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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der zweite Schlag ertönte.
    Mitternacht.
    Mit dem dritten Gong trat ich ans Fenster und zog die Gar-dine zur Seite.
    Der Platz lag schwarz und still wie ein See aus geschmolze-nem Pech da. Die Lichter Londons schienen unendlich weit fort, nicht realer als die Sterne, die Millionen Meilen über mir am Himmel blinkten.
    Der vierte Schlag. Er schien noch düsterer zu klingen als die drei davor. Mitternacht …
    Was war so bedeutsam an diesem Augenblick? Irgend etwas war da, etwas unglaublich Wichtiges, das ich vergessen hatte.
    Der fünfte Gong, dumpf, lang nachhallend und so unheil-schwanger, daß ich mich unwillkürlich umwandte und die Uhr ansah. Aber natürlich war nichts Außergewöhnliches an ihr zu entdecken.
    Und schon gar nichts Bedrohliches.
    Der sechste Gong.
    Ich blickte wieder aus dem Fenster. Irgend etwas geschah dort draußen, aber ich vermochte nicht zu sagen, was. Eine immer stärker werdende Unruhe hatte mich ergriffen.
    Mit dem siebenten Gong begannen sich Wolken über mir am Himmel zusammenzuziehen, schwere, finstere Wolken, die wie brodelnder schwarzer Nebel aus dem Nichts kamen und sich rasend schnell ausbreiteten; ein schwarzer Tintenfleck, der das Firmament auffraß.
    Der achte Schlag. Die Hälfte des Himmels war verschwunden. Regen klatschte gegen die Fensterscheiben, und ich hörte den Wind, der wie das Heulen unheimlicher gigantischer Sturmwölfe anmutete. ›Was war das?‹ dachte ich entsetzt.
    Noch nie hatte ich erlebt, daß ein Unwetter so schnell herauf-gezogen war.
    Die Uhr schlug zum neunten Mal.
    Mitternacht. Priscilla hatte von Mitternacht gesprochen.
    Warum? Was war es, was ich übersehen hatte?
    Als die Uhr zum zehnten Mal schlug, hatten sich Wolken und Regen zu einem Sturm zusammengeballt, der an den Fenstern rüttelte. Blitze zuckten.
    Mitternacht. Was geschah um Mitternacht?
    Der elfte Schlag. Der vorletzte.
    Der Boden bebte. Blitz auf Blitz zuckte vom Himmel. Hagel-körner mischten sich in den Regen. Ein Orkan tobte. Das ganze Haus zitterte, ächzte wie ein waidwundes Tier unter dem Ansturm der Windböen.
    Hinter mir erscholl ein ungeheuer dumpfer, dröhnender Gong.
    Die Uhr schlug Mitternacht.
    Und auf einmal war die Dunkelheit draußen so vollkommen, als hätte sich eine Glocke aus schwarzem Stahl über die Stadt gestülpt.
    Hinter den Fenstern war nichts mehr. Der Garten, die Mauer, der Platz, die Stadt waren verschwunden. Fort, als hätte es sie nie gegeben. Der Sturm heulte und tobte weiter um das Haus, und ich spürte die gewaltige Kraft, die das Gebäude erzittern ließ, spürte das heiße elektrische Zischen der Blitze und hörte das Dröhnen und Bersten, mit dem sie einschlugen, nicht sehr weit entfernt, aber ich sah nichts.

    Da fiel mein Blick auf die Uhr und ich erstarrte: Ihre Zeiger rotierten wie wild, die Zifferblätter glühten.
    Und ich wußte, was das Unwetter bedeutete. Ganz plötzlich wußte ich es. Mitternacht. Priscillas Worte. Das Beben.
    Der Sturm. Die Finsternis. Ich hatte es gewußt, noch ehe die Uhr zum zweiten Mal schlug, doch ich hatte es nicht wahrhaben wollen, und ich sperrte mich auch jetzt noch dagegen.
    Endlos stand ich so erstarrt da, gelähmt vor Entsetzen und Grauen und unfähig, den Blick von den rotierenden Zeigern der Uhr zu wenden.
    Dann hörte ich die Schritte.
    Sie waren leise. Nicht wie die eines Menschen, der sich bemühte zu schleichen, sondern so, als kämen sie von weit, unendlich weit her. Es war ein schreckliches, platschendes Geräusch, wie von etwas Großem, unmenschlich Massigem, das sich den Flur entlang bewegte.
    Außer mir und Priscilla war doch niemand im Haus!
    Langsam, wie unter Zwang und fast gegen meinen Willen, ging ich zur Tür und trat hinaus.
    Es war Priscilla.
    Sie hatte die Treppe erreicht, die sie nun langsam, ohne Hast, hoch aufgerichtet und mit starrem Blick hinabzusteigen begann. Ja, es war Priscilla, aber ihr Schatten war nicht der eines Menschen, und ihre Schritte erzeugten dieses entsetzliche feuchte Schlurfen, und wo sie entlangging, blieben dunkel-braune Flecken auf dem Teppich zurück.
    Wie betäubt folgte ich ihr. Hinter meinem Rücken tobte der unsichtbare Höllensturm, und unter meinen Füßen bebte die Erde. Ein tiefes, unsäglich qualvolles Stöhnen lief durch die Wände des Hauses.
    Priscilla erreichte das Erdgeschoß, wandte sich nach rechts und blieb stehen.
    Mein Herz machte einen entsetzlichen Sprung, als sie sich zu mir herumdrehte und mich ansah. Ihre Augen waren … oh Gott!
    Es war, als

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