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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ich seit Jahren kannte und liebte.
    Nichts an ihren Zügen hatte sich wirklich verändert. Doch gleichzeitig war sie etwas anderes, etwas unbeschreiblich Entsetzliches, Fremdes, als schimmerte die Fratze einer zweiten, fürchterlichen Kreatur durch die vertrauten Züge ihres Gesichts.
    »Warum?« stöhnte ich. Ich konnte kaum mehr sprechen.
    Etwas saugte die Kraft aus meinem Leib, zehrte an meiner Lebensenergie und ließ mich schwächer werden, mit jeder Sekunde. Die Schmerzen in meinen Händen waren unerträglich. Dabei hätte ich nach allem medizinischen Ermessen längst keine Schmerzen mehr spüren dürfen: Die Verletzungen, die ich erlitten hatte, hätten mich in eine erlösende Ohnmacht sinken lassen müssen. Aber die gleiche unbegreifliche Macht, die meine Lebenskraft aufzehrte, hielt mich gleichzeitig bei Bewußtsein.
    Dann begriff ich, daß es Priscilla war, die beides tat.
    Sie tötete mich, aber sie sorgte auch dafür, daß dieses Sterben nicht zu schnell ging.
    »Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet«, flüsterte sie. »Wie lange! Oh, wie unendlich lange!«
    »Wer … bist … du?« stöhnte ich. »Wer … bist du wirklich, Priscilla?«

    »Nicht die, für die du mich hältst«, wiederholte Priscilla, und für einen Moment verlor sie jede Ähnlichkeit mit einem Menschen, war nur noch Ungeheuer, Monster, Hexe, Dämon, alles in einem und doch nichts von allem.
    »Ich habe auf dich gewartet, Robert«, sagte sie kichernd.
    »Sehr, sehr lange. Und du bist gekommen.« Sie lachte wieder, nahm das entsetzliche grünlodernde Ding aus meinen verbrannten Händen und stand auf. Ich sah, wie auch ihre Haut unter der Hitze schwarz wurde und verkohlte, aber sie schien den Schmerz nicht zu spüren. Ihr Körper war nur seine Hülle; ein Werkzeug, das seinen Dienst fast getan hatte und ruhig zerstört werden konnte.
    »Du bist gekommen«, rief sie triumphierend, »Du bist gekommen, um das Werk zu vollenden.«
    Sie sah mich nicht an bei diesen Worten. Ihr Blick war starr auf das zuckende glühende Ding in ihren Händen gerichtet.
    Das grüne Licht spiegelte sich in ihren unheimlichen, toten Augen.
    »Wer … bist du?« stöhnte ich.
    »Dein Schicksal«, kicherte Priscilla. »Du hast gedacht, du könntest vor mir davonlaufen, wie? Oh ja, eine Weile ist es dir sogar gelungen, aber jetzt habe ich dich eingeholt.«
    »Dann … dann war alles nicht echt?« wimmerte ich.
    Der Gedanke war schlimmer als die Schmerzen, schlimmer als das untrügliche Wissen, sterben zu müssen, nicht irgendwann und irgendwo, sondern hier und jetzt. Alles, was ich zu spüren geglaubt hatte ihre Liebe, ihre Sanftheit, ihre Zunei-gung all das sollte falsch gewesen sein?
    »Nicht alles«, sagte das Wesen, das von Priscilla Besitz ergriffen hatte. »Dieser Körper ist nur ein Werkzeug, dessen wir uns bedienen, so wie Tausender anderer zuvor. Aber durch deine Hilfe ist er zum letzten Werkzeug geworden. Nun wird es geschehen, nichts kann es mehr aufhalten. Nichts!«

    Damit hob sie das grün-flimmernde Ding, das sich aus den Siegeln gebildet hatte, hoch über den Kopf.
    Von draußen drang ein ungeheurer Donnerschlag herein.
    Noch immer lastete die Dunkelheit wie eine Mauer vor dem Fenster, und eine tödliche Stille breitete sich aus, als hielte die ganze Welt vor Entsetzen den Atem an. Der Boden zitterte. Ein Beben lief durch das Haus. Die Blitze zuckten immer rascher.
    Und dann traf einer das Fenster.
    Die Scheiben zerbarsten. Regen und Glasscherben und ein Schwall eisiger Luft wirbelten in den Salon. Eine Linie aus unerträglich grellem, zischendem Licht jagte im Zickzack über den Boden, brannte eine rauchende Spur in die Dielen, berührte fast spielerisch Tische und Stühle und setzte sie in Brand, huschte weniger als einen Yard neben mir vorbei und bohrte sich in das grüne Ding in Priscillas Händen.
    Das Siegel und ihr Körper glühten auf. Ein entsetzlicher, durch und durch unmenschlicher Schrei übertönte das Heulen des Sturmes und das unheimliche elektrische Zischen des Blitzes. Ich spürte die ungeheure Energie, die durch das Siegel floß.
    Und der Blitz erlosch nicht.
    Er erstarrte.
    Es widersprach allen Naturgesetzen, aber es geschah: Der Blitz fror regelrecht ein, wurde zu einem zuckenden, hin und her peitschenden Tentakel aus purer, blauweiß knisternder Energie, der beinahe liebkosend über den grünen Riesenkristall strich.
    Dann traf ein zweiter, noch ungeheuerlicher Schlag das Haus.
    Diesmal explodierte die Tür des Salons.
    Wie

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