Der Erdbeerpfluecker
darüber liest. Als hätte man einen Logenplatz. In der Sicherheit. Von dort aus erkannte man die Gefahr nicht. Alles blieb ganz allgemein.
Bei Caros richtigem Namen stutzte ich, wie jedes Mal, wenn ich ihm bisher begegnet war. Carola passte so gar nicht zu ihr, war viel zu bieder, viel zu brav. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach, warum das so war, denn der Artikel hatte mich wütend gemacht. Er steckte voller Gemeinplätze. Die Sätze hangelten sich von einer Floskel zur nächsten.
Hinweise. Belohnung. Täter. Mörder. Opfer. Ergreifung. Heiße Spur.
Begriffe, die ich hundert Mal gelesen oder gehört hatte. Mit denen ich nichts anfangen konnte. Hier ging es um Caro. Doch in keinem dieser Sätze kam sie wirklich vor.
Die ßberschrift war eine Geschmacklosigkeit.
Neues Opfer des Halskettenmörders.
Als wäre die ganze Welt ein großes Kino. Und wir alle Figuren in einer von einem kranken Hirn erdachten Handlung. Das hatte nichts mehr mit Journalismus zu tun, das war reine Sensationshascherei.
Der einzige Begriff, der Menschlichkeit durchschimmern ließ, war
schreckliche Taten
. Da hatte der Redakteur für einen Moment die Schablone aus der Hand gelegt und etwas gespürt von Caros Sterben.
Ich notierte mir seinen Namen. Hajo Geerts. Ich würde ihn anrufen oder ihm schreiben. Später. Vielleicht. Irgendwann.
Merle war in der Schule. Sie hatte es in der Wohnung nicht mehr ausgehalten. Bei mir war es umgekehrt. Wie eine kranke Katze versteckte ich mich und leckte meine Wunden.
Ich vermisste Caro an allen Ecken und Enden. Ständig sah ich sie. In der Küche, im Bad, in der Diele. Ich sah sie in meinem Sessel sitzen. Hörte ihr Lachen. Roch ihr Parfüm.
Ihre Sachen waren noch überall, ihr Kamm, ihre Zahnbürste und ihr Bademantel, ihre Schuhe, die sie immer achtlos abgestreift und weggekickt hatte, ihre Zeitschriften, die überall herumflogen, sogar ihre Jogurts standen noch im Kühlschrank.
Weder Merle noch ich hatten bisher den Mut gefunden, Caros Zimmer zu betreten. Wir hatten sogar die Tür abgeschlossen. Der Schlüssel steckte und es war, als hätte jemand mit unsichtbarer Farbe an diese Tür geschrieben: Caro ist tot.
Immer wieder, zwanghaft beinah, musste ich mir vorstellen, wie Caro gestorben war.
Ganz allein. Voller Angst.
Ich machte mir Vorwürfe. ßberlegte fieberhaft, was ich wohl in dem Augenblick getan hatte, als meine Freundin ermordet wurde. An jenem Abend war ich in der Mühle gewesen, um an dem Fernsehporträt mitzuwirken. Hatte meine Rolle als Tochter einer Berühmtheit so gut gespielt, wie es eben ging, gehorsam in die Kamera gelächelt und sämtliche Fragen geduldig beantwortet. Und dann dieser Kameramann. Sie nannten ihn Lucky. Das fand ich albern. Und faszinierend. Ich vermied es, ihn anzusehen, aber aus den Augenwinkeln verfolgte ich jede seiner Bewegungen. Spürte seinen Blick, seine Aufmerksamkeit.
Und während ich flirtete, war Caro gestorben? Oder erst in der Nacht, als ich in meinem alten Bett in der Mühle lag und mir Geschichten ausdachte, in denen Lucky und ich die Hauptrolle spielten?
Wie kann jemand, den man liebt, sterben, und man merkt es nicht?
Ich ließ die Zeitung auf dem Küchentisch liegen, ging in mein Zimmer und warf mich aufs Bett. Mir war zumute wie einem, der mitten im Traum merkt, dass er sich in einem Traum befindet. Aber ich wachte nicht auf. Ein dumpfes Gefühl hatte sich in meinem Kopf ausgebreitet, das alle Gedanken zu filtern schien.
Caro ist tot, dachte ich. Sie ist ermordet worden.
Es waren nur Gedanken. Bloß Worte. Ich ließ sie nicht an mich heran. Vielleicht war es immer noch der Schock, der mich schützte. Wie lange noch?
Bert hatte die Zeitung nur widerstrebend aufgeschlagen. Warum las er solche Artikel überhaupt? Sie waren doch immer gleich. Als ginge es nicht bei jedem Fall um ein einzigartiges Schicksal.
Die pathetische Beschwörung der in den Städten und Dörfern umhergehenden Angst fand er nur peinlich und die Unterstellung, die Polizei habe geschlafen und nicht ihre Pflicht getan, unverschämt.
Mit dem Redakteur hatte er ein paarmal zu tun gehabt. Ein Gesicht unter vielen. Nichts, was sich Bert eingeprägt hätte, abgesehen von dem norddeutschen Namen, der ihn an seine Kindheit erinnerte. Dieser Hajo Geerts hatte die üblichen Fragen gestellt und die üblichen Schlüsse gezogen.
Kein Funken Kreativität, dachte Bert. Und kein Sprachgefühl. Dabei könnte eine Zeitung, selbst ein kleines Lokalblatt,
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