Der Erdbeerpfluecker
war völlig unwichtig gewesen. Darüber hatten wir nicht gesprochen.
»Worüber habt ihr denn geredet?«, fragte Merle.
Ja, worüber? Er hatte mir von seiner Kindheit erzählt. Dass er bei seinen Großeltern aufgewachsen war. Dass sein Großvater ihn misshandelt hatte. Ich hatte die helle kleine Narbe an seinem Kinn mit der Fingerspitze berührt. Und weitere Narben gesehen. An seinem Hals und auf seiner Stirn, halb vom Haaransatz verdeckt.
Er war unter der Berührung zusammengezuckt, und ich hatte mir geschworen, dass ich ihm nie, niemals wehtun würde.
Ich hatte ihm von Caro erzählt. Hauptsächlich von ihr. »Er hatte Tränen in den Augen«, sagte ich. »Kannst du dich erinnern, wann du zuletzt einen Mann hast weinen sehen?«
Merle schüttelte den Kopf.
»Und trotzdem ist er ein richtiger Mann.«
»Das habt ihr auch schon ausprobiert?«
»Quatsch! Ich meine nur, dass er nicht so... dass er eher... dass er irgendwie...«
Merle hörte meinem Gestammel grinsend zu. »Fassen wir zusammen«, sagte sie. »Er heißt Gorg, ist vielleicht um die dreißig, vielleicht aber auch nicht, hatte eine schwere Kindheit, ist ein echter Kerl, der sich aber auch nicht scheut zu weinen, und hat dich in weniger als drei Stunden um den Finger gewickelt. Korrekt?«
»Hört sich an wie Daily Soap.«
»Weil es mit der Liebe ist wie mit den Sonnenuntergängen«, sagte Merle. »Du findest sie kitschig und trotzdem atemberaubend.« Sie fing an zu weinen.
Claudio! Hoffentlich gehörte er nun endgültig der Vergangenheit an.
Ich gab Merle ein Taschentuch und richtete mich auf eine lange Nacht ein.
Er konnte nicht schlafen. Das Mondlicht war zu hell. Und es war zu warm. Das Dachgeschoss hatte die Hitze der vergangenen Tage gespeichert. Da nützte es auch nichts, abends das Fenster aufzureißen. Das zog bloß die Mücken an.
Jettes Stimme hatte ihn in sein Zimmer begleitet. Er hatte sie immer noch im Kopf. Voll und weich. Unvergleichlich.
Sie hatte von Caro erzählt. Er hatte mühsam die Tränen zurückgehalten. Das war ihm nur gelungen, weil er sich darauf konzentriert hatte, sie anzusehen und sich alles einzuprägen. Den kleinen Leberfleck an der Schläfe, das Grübchen am Kinn, den Haarwirbel über der Stirn.
Jette war nicht hübsch. Sie war schön. Auf eine eigenwillige Weise. Sie entsprach nicht dem modernen Ideal, war vielleicht zu spröde, zu kantig, zu wenig rund. Ihre Art der Schönheit war eine andere. Bedeutende Frauen der Geschichte waren auf diese Weise schön gewesen.
Wirkliche Schönheit, dachte er, erkennt man auf den ersten Blick. Und man vergisst sie nicht.
Jeden Zug ihres Gesichts sah er vor sich. Und er erinnerte sich, wie schwer es ihm gefallen war, nicht ihre Wange zu berühren, ihren Hals, ihre Ohren.
Langsam. Langsam. Die Zeit würde kommen.
Er hatte ihr wahre Dinge erzählt und Lügen. Das ließ sich nicht vermeiden. Irgendwann würde er ihr ganz vertrauen können, und dann würde sie verstehen und ihn nicht zurückstoßen.
Er hatte ihre Freundin getötet.
Das Zittern überfiel ihn wie aus dem Hinterhalt. Er rollte sich zusammen und schlang sich die Bettdecke fest um den Körper.
Gorg. Er musste sich merken, dass er ihr diesen Namen genannt hatte. Polnisch, hatte er gesagt. Ein Name, der schon Jahrhunderte alt ist.
Er musste sich alles merken. Er durfte keinen Fehler machen.
Dieses Mädchen hatte das Zeug dazu, die Liebe seines Lebens zu werden.
Gleich nachdem Tilo aufgebrochen war, hatte Imke bei den Mädchen angerufen und sich zum Frühstück eingeladen. Sie hatte Jette aus dem Bett geholt, das hörte sie an ihrer Stimme. »Entschuldige«, sagte sie, »aber ich hatte Angst, ihr würdet mir wieder entwischen.«
Die Mädchen schienen sich über ihren Besuch zu freuen. Und über die Brötchen, die noch warm waren. Zwei Katzen sprangen in der Küche herum und jagten Staubflusen. Imke wünschte sich, es wären Hunde, große, starke, zuverlässige Tiere.
Sie hatte die Hoffnung gehabt, die Mädchen würden sie in irgendwelche Geheimnisse einweihen, damit sie über ihr Treiben Bescheid wüsste und nicht so entsetzlich hilflos wäre. Aber das taten sie nicht. Sie redeten über dies und das, zwei, die es gut verstanden, heikle Themen zu umgehen.
Jette war verändert. Es ging ein Strahlen von ihr aus, das Imke sofort erkannte.
»Der junge Kameramann?«, fragte sie.
Ihre Tochter war wie in Glück getaucht. Sie trug dieses Glück wie ein unsichtbares Gewand, das sie
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