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Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Es war ein trügerischer Trost, aber Beere glaubte so inbrünstig daran, dass Tenar gar nicht anders konnte, als ihr zuzustimmen, was schon wieder ein kleiner Trost in sich war.
    Sie brauchte irgendeine Beschäftigung, denn Tehanus Abwesenheit war allgegenwärtig. Sie beschloss, die kargische Prinzessin zu besuchen, um zu sehen, ob das Mädchen gewillt war, ein Wort Hardisch zu lernen oder Tenar wenigstens seinen Namen zu sagen.
    Im Kargadreich hatten die Menschen keinen wahren Namen, den sie geheim hielten, wie es die Sprecher des Hardischen taten. Wie die Gebrauchsnamen hier hatten kargische Namen oftmals eine Bedeutung: Rose, Erle, Ehre, Hoffnung; oder es waren traditionelle Namen, wie die eines Vorfahren. Die Leute gebrauchten sie öffentlich und waren stolz, wenn der Name ein besonders alter war, der von Generation zu Generation weitervererbt worden war. Sie selbst war ihren Eltern zu früh weggenommen worden, als dass sie gewusst hätte, warum sie sie Tenar genannt hatten, aber sie vermutete, dass es der Name einer Großmutter oder Urgroßmutter gewesen war. Der Name war ihr genommen worden, als man in ihr Arha erkannt hatte, die Namenlose Wiedergeborene, und sie hatte ihn vergessen, bis Ged ihn ihr zurückgegeben hatte. Für sie wie für ihn war er ihr wahrer Name; aber er war kein Wort aus der Alten Sprache, er gab niemandem irgendwelche Macht über sie, und deshalb hatte sie ihn nie versteckt.
    Sie war überrascht, dass die Prinzessin das tat. Ihre Leibeigenen nannten sie nur Prinzessin oder Lady oder Herrin; die Abgesandten hatten von ihr gesprochen als von der Hohen Prinzessin, der Tochter Thols, der Dame von Hur-at-Hur und dergleichen. Wenn alles, was das arme Mädchen besaß, Titel waren, dann war es Zeit, dass es einen Namen bekam.
    Tenar wusste, dass es sich für einen Gast des Königs nicht schickte, allein durch die Straßen von Havnor zu gehen, und da ihr bekannt war, dass Beere Pflichten im Palast hatte, bat sie darum, dass man ihr einen Diener zur Begleitung mitgab. Daraufhin stellte man ihr einen reizenden Lakaien bei, einen Jüngling von gerade fünfzehn Jahren, der sie mit rührender Aufmerksamkeit über die Straßenkreuzungen geleitete, als wäre sie eine Tattergreisin. Sie liebte es, in der Stadt herumzuspazieren. Auf ihren Gängen zum Flusshaus hatte sie bereits festgestellt - und vor sich selbst eingestanden -, dass es leichter war ohne Tehanu an ihrer Seite. Die Leute pflegten Tehanu anzustarren und dann eiligst wieder wegzuschauen, und Tehanu schritt daher mit steifem, leidendem Stolz, empört sowohl über die gaffenden Blicke als auch darüber, dass sie wegschauten; und Tenar litt mit ihr, vielleicht noch mehr als Tehanu selbst.
    Jetzt hingegen konnte sie gemächlich schlendern und das bunte Treiben auf den Straßen studieren, die Marktbuden, die verschiedenen Gesichter und Trachten aus dem gesamten Archipel; sie konnte vom direkten Weg abweichen, um sich von ihrem Lakaien eine Straße zeigen zu lassen, in der die bemalten, sich von Dach zu Dach schwingenden Brücken eine Art luftiges Gewölbedach hoch über ihren Köpfen bildeten, von dem rot blühende Ranken sich girlandenartig herunterschlängelten, und wo die Leute Vogelkäfige an vergoldeten Stangen aus den Fenstern hängten, sodass man meinen könnte, man befände sich in einem Garten mitten in der Luft. »Ach, ich wünschte mir, Tehanu könnte das sehen«, dachte sie. Aber sie konnte nicht an Tehanu denken, daran, wo sie jetzt möglicherweise war.
    Das Flusshaus stammte wie der Neue Palast aus der Herrschaftszeit von Königin Heru, die fünf Jahrhunderte zurücklag. Es hatte in Trümmern gelegen, als Lebannen auf den Thron gestiegen war. Er hatte es mit viel Liebe und Sorgfalt wieder aufgebaut, und es war ein reizender, friedlicher Ort, sparsam möbliert, mit dunklen, blank gebohnerten Böden ohne Teppiche. Reihen schmaler, bis zum Fußboden reichender Flügelfenster öffneten die gesamte Front eines Zimmers und gestatteten so einen ungehinderten Blick auf die Weidenbäume und den Fluss, und wenn man wollte, konnte man hinaustreten auf geräumige hölzerne Balkone, die weit über das Wasser ragten. Hofdamen hatten Tenar erzählt, dass dies der Ort gewesen sei, den der König am liebsten aufgesucht habe, wenn er heimlich eine Nacht der Einsamkeit oder eine solche der Liebe habe genießen wollen, was - so hatten sie angedeutet - der Tatsache, dass er die Prinzessin dort untergebracht hatte, noch mehr an Bedeutung verleihe. Ihre

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